TotenEngel
das Weinen ihres Vaters. Julika dachte nicht, dass sie in Gefahr war. Sie sah sich nicht als jemand, der in Gefahr geriet, nicht einmal nachts allein in einer Sterbeklinik, in der sie jemanden davor beschützen sollte, getötet zu werden. Sie war seit drei Stunden hier. Nachdem sie Tons Anruf bekommen hatte, war sie sofort losgefahren, durch den Regen, der nicht aufhören wollte. Sie sah ihn noch gegen die Windschutzscheibe pladdern, dick wie flüssiges Glas, sodass die Scheibenwischer kaum gegen die Fluten ankamen. Sie hörte das harte Klackern der Tropfen und Tons Stimme: Du musst sofort rausfahren zu Doktor Death, eine Patientin braucht Personenschutz. Sie heißt Muriel Brautigam. Stell jetzt keine Fragen, setz dich einfach an ihr Bett .
Und dann: Jemand hat versucht, Bruno umzubringen, mit einer Plastiktüte, aber es ist nichts passiert, Bruno lebt. Immer wieder hörte sie das, jemand hat versucht, Bruno umzubringen … Bruno umzubringen … Bruno umzubringen , aber sie sah es nicht. Stattdessen sah sie Bruno, wie er in der Nacht nach dem Tod seiner Frau gewesen war. Wie sie ihm die Pistole weggenommen hatte, wie sie sich abgemüht hatte, ihn wieder nüchtern zu bekommen, mit Kaffee und kaltem Wasser.
Schließlich sah sie die Klinik im Licht ihrer Scheinwerfer; großeNässeflecken hatten sich auf der Fassade gebildet. Sie stieg aus und rannte, die Fleece-Jacke über den Kopf gezogen, zum Eingang und drückte die Nachtklingel, immer wieder und jedes Mal länger, so lange, bis eine Schwester an die Tür kam. Julika zeigte der Schwester ihren Ausweis und verlangte, sofort zu Muriel Brautigam gebracht zu werden. Ich muss erst Doktor van der Meer fragen, erklärte die Schwester, und Julika sagte: Später, wenn ich weiß, dass Mevrouw Brautigam noch lebt. Und dabei dachte sie, jemand hat versucht, Bruno umzubringen, der Plastiktütenmörder, dachte sie, und er ist entkommen. Deswegen bin ich hier.
Sie sah sich, wie sie mit der Nachtschwester durch das Treppenhaus lief, den dunklen Gang zu Muriel Brautigams Zimmer entlang, wie sie, ohne anzuklopfen, in den winzigen Raum stürzte. Sie sah Muriel in ihrem von schwachem Licht beschienenen Bett. Sie lebte, sie war noch nicht tot, und es hatte auch niemand versucht, sie umzubringen. Dann stürmte Doktor Death in den Raum, hastig angezogen, aber hellwach, mit zornigen Augen, genau wie der Commissaris ihn beschrieben hatte, eine eindrucksvolle Szene: Sie hörte seine leise, aber scharfe Stimme und wie sie selbst sich stur stellte, nicht taub, nur stur, und mitten in der Nacht wurde man damit sogar jemand wie ihn los; er konnte ja nichts unternehmen.
Muriel zitterte im Schlaf, ihr Körper krümmte sich. Julika dachte: Sie ist nicht viel älter als ich, und alles, was ihr noch vom Leben bleibt, sind unerträgliche Qualen . Sie wusste – sie wusste es genau –, dass sie diesen Moment gerade in ihre Videothek aufnahm und dass sie ihn immer wieder sehen würde, ob sie wollte oder nicht. Sie würde sich fragen: Was hast du getan? Hättest du nicht etwas unternehmen sollen, genau jetzt, und scheiß drauf, was hinterher irgendjemand sagt?!
Sie stand auf und beugte sich über Muriel, deren Augen unter den angespannten, muschelglatten Lidern hin- und herzuckten. Ich kann dir helfen , dachte Julika. Sie berührte den Knopf, mit dem man den Herzmonitor an- und ausschaltete. Sie legte einen Finger auf den On / Off- Schalter des Respirators. Sie nahm den dünnen Infusionsschlauch zwischen Daumen und Zeigefinger und fuhr sanftdaran herunter bis zu der Nadel, die in Muriels zerstochene Venen führte.
Ich kann dir helfen. Ich kann dir deinen Wunsch erfüllen. Ich kann dich erlösen. Aber wenn ich es tue, bin ich nicht mehr dieselbe; nicht mehr die, die ich vorher war, egal, wer ich war. Ich muss die ganzen Bänder neu sichten, und vielleicht kann ich danach auch keine Polizistin mehr sein, und das ist alles, was ich immer sein wollte.
Julika fragte sich, was sie gewollt hätte, wenn sie Muriel gewesen wäre. Sie stellte fest, dass sie sich das nicht vorstellen konnte: so krank zu sein, solche Schmerzen zu erleiden, dass sie sich nur noch danach sehnte zu sterben. Angewiesen zu sein auf das Mitleid von Fremden. Keine Zukunft mehr zu haben, all die Jahre, die sie vor sich spürte, plötzlich weggewischt. Auf einmal kam sie sich schäbig vor, undankbar. Sie konnte gehen, klettern, schwimmen, aber all das war ihr nichts wert; sie lief einem Mann nach, der seine Frau verloren hatte. Der
Weitere Kostenlose Bücher