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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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des Todes, und wir haben Angst, das ist ganz normal. Es ist das verlorene Licht, das uns ängstigt. Aber ohne dass wir es wissen, gibt es schon Menschen, die nach uns suchen. Die unterwegs sind, um uns zu retten, und manchmal gelingt es – einige werden gerettet. Und wenn wirauftauchen in das verlorene Licht, stellen wir fest, dass es die ganze Zeit da war. Es war da und hat auf uns gewartet.«
    Van Leeuwen dachte: als wäre man lebendig begraben. Und in letzter Sekunde wird man frei gescharrt und vor dem Ersticken bewahrt. Er wünschte, er hätte tatsächlich Kaffee gekocht, hätte ihn getrunken und wäre nüchtern. Er spürte, dass ein falsches Wort jetzt alles zerstören konnte, und das Ungesagte blieb für immer in den lichtlosen, unterirdischen Gängen. Er hielt den Hörer so fest ans Ohr gepresst, dass auch die gesunde Hand zu schmerzen begann. Aber dann konnte er sich doch nicht beherrschen und sagte: »Als ich bei Ihnen im Studio war, haben Sie ebenfalls über Einsamkeit gesprochen. Ich glaube, Sie haben gesagt, eine solche Einsamkeit – das ist, als wäre man lebendig begraben. Als wäre man sein eigenes Grab … Erinnern Sie sich?«
    »Sie sind einer dieser Menschen, die nach anderen suchen, um sie zu retten«, erwiderte Jacobszoon, ohne auf Van Leeuwens Frage einzugehen, »das habe ich schon bei unserer ersten Begegnung erkannt. Sie sind auch da, um zuzuhören. Sie sind wie ich, einer, der die Wege kennt, weil er selbst auf ihnen gegangen ist und aus der Dunkelheit wieder aufgetaucht ist.«
    Ich bin nicht wie du, dachte Van Leeuwen, ganz und gar nicht. Laut sagte er: »Wenn Sie von der Nähe des Todes sprechen, frage ich mich, was Sie gerade jetzt, heute Nacht, darauf gebracht hat.«
    »Ich habe sie gespürt«, meinte Jacobszoon. »Wenn man den halben Abend in der Gesellschaft eines Menschen wie Muriel Brautigam verbringt, die so sehr von ihrer eigenen Verwundbarkeit durchlöchert ist, dass sie nichts mehr wünscht, als zu sterben, bleibt das wohl nicht aus.«
    »Ich habe sie auch gespürt«, entgegnete Van Leeuwen, »und ich habe es mir nicht gewünscht.« Plötzlich fiel ihm wieder ein, wie er mit Van der Meer in Muriel Brautigams Zimmer gewesen war, bei seinem Besuch in der Klinik. Wie er das Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden, durch einen Spalt in einer Tür, die er geschlossen hatte. »Sie waren damals auf dem Gang«, entfuhr es ihm. »Sie haben mich an Muriels Bett beobachtet.«
    »Und wenn?«
    »Warum?«
    »Ich war im Sekretariat, dem Zimmer neben Doktor van der Meers Büro. Wir hatten vorher über Muriel gesprochen. Ich habe gehört, worüber Sie mit ihm geredet haben.«
    »Und dann sind Sie uns gefolgt.«
    »Ich wollte wissen, mit wem wir es zu tun haben.«
    »Weil Sie mich vielleicht umbringen mussten?«, fragte Van Leeuwen schroff.
    »Haben Sie Angst vor dem Tod?«
    »Ich habe mich mit ihm abgefunden, soweit das auf einigermaßen anständige Weise geht«, antwortete Van Leeuwen. »Allerdings weiß ich nicht, ob ich mich nicht eher mit der Idee der Sterblichkeit abgefunden habe.«
    »Sehr differenziert, für einen Polizisten«, sagte Jacobszoon, und der Commissaris suchte nach einem Beigeschmack von Herablassung in seinen Worten, fand ihn aber nicht. »Der dunkle Hintergrund, den ein Spiegel braucht, damit wir uns darin sehen können: Ohne das Wissen, dass wir sterben müssen, hätte weder die Liebe noch das Glück oder sonst irgendetwas Lebendiges auch nur den geringsten Wert.« Er hielt wieder inne, nicht zu lange und nicht zu kurz. »Sehen Sie, es tut gut, wenn einem jemand zuhört, spät in der Nacht.«
    Van Leeuwen merkte, dass er allmählich wieder einen klaren Kopf bekam. »Tut es auch gut zuzuhören?«, fragte er. »Ich weiß, warum ich Polizist geworden bin, aber aus welchem Grund haben Sie einen Beruf ergriffen, in dem das Leid der Welt auf allen Kanälen zu Ihnen spricht, egal, welchen Sie einstellen?«
    Wem willst du helfen, dir selbst oder den anderen?
    Jacobszoon schien über seine Worte nachzudenken, als ließe sich ergründen, was Van Leeuwen gemeint haben könnte, ohne zu fragen. »Das weiß ich nicht mehr«, bekannte er endlich. »Ich bin nicht mehr derselbe wie damals.«
    »Aber wer hört Ihnen zu?«, fragte der Commissaris. Hier ist mein Angebot an den menschlichen Teil deiner Seele. »Wenn Siewieder auf den Weg in die Dunkelheit geraten, wer ist dann für Sie da?«
    »Niemand«, erklärte Jacobszoon. »Das ist auch nicht nötig. Ich brauche niemand.«
    Van Leeuwen

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