TotenEngel
Stirn und die Augen, sondern die Nase und den Mund, aber merkwürdig verzerrt, als lächelte sie ein schiefes Lächeln, das nur Anspannung war. Sie umklammerte den Griff der Sig Sauer in ihrem Schulterhalfter. Sie merkte, dass sie den Atem angehalten hatte; ihre Nackenhaare waren gesträubt, wie gegen den Strich gebürstet. Sie senkte den Kopf. Als sie ihn wieder hob, schlossen sich die Türen gerade mit einem leisen Scheppern.
Julika kehrte um und ging zurück und vorbei an Muriels Zimmer zur Toilette. Die Gänsehaut zwischen ihren Schulterblättern glättete sich wieder. Sie schloss die Kabinentür hinter sich. Als sie den Knopf ihrer Jeans öffnete, hörte sie neuerlich den Fahrstuhl, leiser hier und weiter weg, aber doch den Fahrstuhl.
Du darfst sie nicht allein lassen, du musst bei ihr sein!
Julika stürzte aus der Toilette und sprintete durch den langen Korridor. Sie sah ihn, wie er vorher gewesen war, aufgezeichnet vom Videorekorder, und sie bemerkte sofort, was jetzt anders war: die Tür stand auf, die Tür zu Muriel Brautigams Zimmer, nur einen Spaltbreit, einen hell leuchtenden Spalt, aber Julika war sicher, sie hinter sich geschlossen zu haben.
Während sie lief, riss sie die Sig Sauer aus dem Halfter; sie hielt sie jetzt mit beiden Händen. Kurz vor der Tür drosselte sie das Tempo und verfiel in einen leisen Trab, dann ging sie nur noch auf Zehenspitzen. Sie war nah genug, um das Zischen des Atemgerätes zu hören und das Piepsen des Herzmonitors. Sie holte tief Luft, zählte langsam eins, zwei drei , atmete aus und stürmte in den Raum. Die Pistole im Anschlag, sicherte sie nach rechts, nach links, nach vorn.
Da, wo ihr Vater gesessen hatte, saß jetzt Bruno, und er war wirklich. Er trug seinen Trenchcoat; die Schultern waren nass, genauso wie sein Haar. Seine linke Hand war bandagiert, ein weißer Verband, und steckte in einer Schlinge. Er betrachtete Muriel, die, von Schmerzmitteln betäubt, in ihrem Bett lag.
»Wo warst du?«, fragte er leise, und nun sah er auf, und wieder hatte sie ein Bild auf ihren Bändern: den Blick, mit dem er sie betrachtete – maßlose Enttäuschung.
38
Sie sicherte die Sig Sauer und schob sie zurück in die Schulterhalfter. Sie wollte etwas sagen, aber alles, was ihr einfiel, war von jetzt an überflüssig. Deswegen beschränkte sie sich darauf, mit den Schultern zu zucken. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Erzähl mir, was passiert ist«, sagte der Commissaris.
»Ich habe ein Geräusch gehört und bin ihm nachgegangen.«
»Du hast die Patientin allein gelassen.«
»Ja.«
»Wie lange warst du weg?«
»Nicht sehr lange.«
»Wie lange?«
Julika rechnete die Schritte auf dem Gang in Sekunden und Minuten um, dann die Zeit im Fahrstuhl und auf der Toilette. »Vielleicht zwölf Minuten.« Es hörte sich sehr lange an.
»Bist du jemandem begegnet, während du weg warst?«
»Nein.«
»Ist dir sonst etwas merkwürdig vorgekommen?«
»Ich habe den Fahrstuhl gehört, er fuhr rauf oder runter, aber als ich ihn angehalten habe, war niemand drin.«
»Weißt du, in welchen Stockwerken er gehalten hat?«
»Nein.«
»Und vorher?«
»Was vorher?«
»Wem bist du vorher begegnet? Mit wem hattest du Kontakt? Wer war hier im Zimmer?«
»Nur die Schwester, die mir geöffnet hat, als ich gekommen bin, und Doktor Death.«
»Van der Meer«, verbesserte der Commissaris sie. »Hast du ihn gefragt, ob Jacobszoon heute Abend hier war?«
»Nein, daran habe ich nicht gedacht. Was ist mit deiner Hand? Ist sie gebrochen?«
»Das ist nichts, eine Zerrung. Wie hat Van der Meer auf dich gewirkt?«
»Wie meinst du das, wie er auf mich gewirkt hat?«
»Beschreib mir genau, wie eure Begegnung verlaufen ist.«
»Er kam hereingestürmt, fuchsteufelswild, und fragte mich, wer ich bin und was ich hier will. Mein Ausweis hat ihm ungefähr so imponiert wie ein eingeschweißter Furz mit Foto, und er brüllte, das sei eine Privatklinik, ich bräuchte einen Durchsuchungsbeschluss. Ich dachte, er brüllt die ganze Station zusammen, aber ich habe einfach auf stur geschaltet, und zu guter Letzt hat er mir noch mit den Schnäbeln seiner Augen die Leber rausgerissen, bevor er wieder aus dem Zimmer gehumpelt ist und …«
»Er ist gehumpelt?«, fragte der Commissaris jetzt mit veränderter Stimme. »Richtig gehumpelt?«
»Ja, als wäre er mit dem Fuß umgeknickt oder jemand hätte ihm einen Tritt in die Kniekehle verpasst oder so was.«
»Bleib hier und lass niemand zu Mevrouw Brautigam.« Der
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