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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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auf. Danach sank das Licht in ihnen tiefer und tiefer, unterwegs zu den ungehobenen Schätzen. Sie verlor die Kraft, sich zu bewegen, nur das Lächeln blieb auf ihren Lippen. Und die Dankbarkeit in ihren Augen erlosch.
    Der Commissaris hörte die Schwester, die schwer atmend in den Raum trat, den Zettel mit Dr. van der Meers Handynummer in der Hand. »Soll ich einen Arzt rufen?«, fragte sie.
    »Nein«, sagte er. »Das ist nicht mehr nötig.«
    Wer entscheidet in dieser Klinik, wer lebt und wer stirbt?
    Warum nicht Sie, Commissaris?

39
    Es regnete noch immer, aber über dem Regen und den Wolken wurde es schon hell, und die ersten Seevögel stiegen wieder in den bleiernen Himmel. Ihre Schreie klangen verloren, und ihr Gefieder war schmutzig und zerzaust. Die meisten hielten sich dicht über dem Strand, gerade hoch genug, dass die gischtige See sie nicht erreichte. Nur ein paar stießen durch den Regen nach oben, wo die Windböen sie packten und zurücktrieben, selbst wenn sie heftig mit den Flügeln schlugen. Es sah aus wie ein Film, der umgekehrtlief: Möwen, die rückwärts nach unten flogen, wo der nasse Strandhafer sich dicht an den grauen Sand presste.
    Van Leeuwen und Julika fuhren langsam vom Parkplatz der Klinik die Einfahrt hinunter, und auf der Straße trat Julika das Gaspedal ganz durch. Das Spalier der runden Lampen verschwand hinter den Regenschleiern aus dem Rückspiegel. Die Scheibenwischer schlugen schnell hin und her, schaufelten das Wasser nach beiden Seiten. Silberne Bäche flossen die Frontscheibe hinauf, teilten sich oben am Dach. Die Nässe auf der Straße zischte unter den Reifen. Sie waren allein, kein anderer Wagen fuhr vor oder hinter ihnen, nur manchmal war da ein Paar Scheinwerfer auf der Gegenfahrbahn, die gleißend zersprangen, wenn sie nah waren und vorbeirasten.
    »Schnall dich an«, sagte Julika.
    »Geht nicht mit der Schlinge und dem Gips«, erwiderte Van Leeuwen.
    »Schnall dich an!«
    Er gehorchte.
    »Es war in der Flüssigkeit«, sagte Julika. »In der Infusionsflasche, oder?« Sie hielt das Lenkrad in beiden Händen und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Nacht über der Straße, die aussah wie ein Fluss. »Denkst du nicht auch, dass es in der Flüssigkeit war?«
    »Ja.«
    »Was war es?«
    »Kaliumchlorid. Oder etwas anderes. Wir müssen die Autopsie abwarten.«
    »Aber wer hat es hineingefüllt? Van der Meer?«
    »Ja.«
    »Während ich das Zimmer verlassen hatte?«
    »Wahrscheinlich.«
    »Warum?«
    »Es war seine letzte Gelegenheit.«
    Julika schwieg. Dann sagte sie: »Das verstehe ich nicht. Ich dachte, er darf keine Euthanasie mehr durchführen.«
    Van Leeuwen erklärte: »Es war seine letzte Gelegenheit, es so aussehen zu lassen, als wäre Jacobszoon dafür verantwortlich. Wirsollten denken, es wäre viel früher in die Flüssigkeit gemischt worden, als Jacobszoon noch bei Muriel war. Bevor du gekommen bist. So stark verdünnt, dass es erst ganz allmählich gewirkt hat.«
    »Aber wieso war es seine letzte Gelegenheit?«
    Der Commissaris hielt das Handy in der linken Hand und wählte die Mobilnummer von Klaas van der Meer. Ein Freizeichen ertönte, das sich endlos wiederholte – keine Mailbox –, ohne dass der Arzt sich meldete. Während Van Leeuwen wartete, antwortete er: »Ich habe dafür gesorgt, dass Muriel Brautigam die bereits beschlossene Sterbehilfe verweigert wird oder dass der Täter zumindest denkt, sie müsste weiter leiden. Ich wollte ihn aus der Reserve locken, ihn auf frischer Tat ertappen, bevor er Muriel erlösen kann. Ich dachte, es wäre Jacobszoon und er könnte nicht so schnell handeln.«
    Er legte das Handy zwischen seine Oberschenkel, suchte nach seinem Notizblock, blätterte mit Daumen und Zeigefinger, bis er die Telefonnummer des Psychologen fand, tauschte den Notizblock wieder gegen das Handy und versuchte nun, Jacobszoon zu erreichen. Der Anrufbeantworter sprang an, und Van Leeuwen sagte: »Commissaris van Leeuwen hier, ich bin auf dem Weg zu Ihnen. Öffnen Sie niemandem außer mir! Hören Sie?! Niemandem außer mir, vor allem nicht Van der Meer!« Er glaubte, ein Knacken zu hören. »Doktor Jacobszoon?«
    Das Knacken wiederholte sich nicht, niemand antwortete ihm. Er unterbrach die Verbindung und legte das Handy in seinen Schoß.
    Julika warf ihm einen Seitenblick zu. »Dann hast du im Grunde dafür gesorgt, dass sie jetzt sterben konnte …«
    Van Leeuwen schwieg. Seine verletzte Hand schmerzte unter dem Verband, und seine Augen brannten.

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