TotenEngel
Auf dem Kopf trug er eine Baseballkappe. Wegen dem Schirm konnte man sein Gesicht nicht erkennen. Sorry , okay?«
Der Commissaris holte sein Handy heraus, um im Präsidium anzurufen, doch bevor er die Nummer drücken konnte, klingelte es. Der Klingelton war leise, und er klang, wie die alten Telefone geklungen hatten, bevor alle möglichen akustischen Signale oder Schlagertakte Mode geworden waren. Van Leeuwen meldete sich.
Die Männerstimme am anderen Ende der Verbindung gehörte Hoofdinspecteur Ton Gallo, der für ihn im Präsidium die Stellung hielt. »Bruno, Ton hier. Bist du noch in der Nähe von Chinatown?«
»Ja.«
»Da hat gerade jemand einen Mord gemeldet. Die Adresse ist Zeedijk einhundertsiebzehn. Ich dachte, ehe wir jemand hinschicken …«
Der Commissaris spürte, wie die kleinen elektrischen Impulse in seiner Brust wieder zu flackern begannen, heftiger als am Nachmittag und sogar heftiger als in der vergangenen Nacht. »Es ist schon gestern Abend passiert. Warum meldet der Zeuge sich erst jetzt?«
»Danach habe ich ihn nicht gefragt. Er sagte, er …«
»Ja, ja, schon gut«, unterbrach Van Leeuwen den Hoofdinspecteur. »Wie lautet der Name des Zeugen?«
»Zheng Wu.«
»Ein Chinese?«
»Ein Chinese«, bestätigte Gallo. »Aber wenn ich ihn richtig verstanden habe, handelt es sich nicht um einen Zeugen.« Einen Moment lang herrschte in der Leitung nur ein Knistern und Rauschen, und plötzlich wusste der Commissaris, was der Hoofdinspecteur als Nächstes sagen wollte. Deswegen kam er ihm zuvor:
»Es handelt sich um den Mörder.«
6
Da, wo das Chinesenviertel begann, endete de wallen , und Zeedijk 117 lag im Herzen von Chinatown. Es war nur ein kleines Herz, aber es schlug laut und bunt, besonders bei Nacht. Der Commissaris ging schnell. An den Häusern liefen geheimnisvolle Schriftzeichen in rotem Neonmandarin rauf und runter, und aus den offenen Türen roch es jetzt nach Räucherstäbchen, gekochten Sojasprossen und gebratenen Enten. Die enge Straße war bevölkert von Passanten und Touristen, die überall in der Stadt auftraten, und von den Chinesen, die es nur hier gab. In den Fenstern der Restaurants und Geschäfte hingen bunte Laternen, deren Licht zu schwach war; Van Leeuwen konnte die Hausnummern nicht lesen. Er blieb vor dem Chinese Medicine Shop stehen, dann vor dem Dragon Inn und wieder vor der chinesischen Fernsehstation. Die Häuser waren schmal, und in jedem Haus befand sich ein altes Antiquitätengeschäft oder ein Tattoostudio oder eine kleine Druckerei oder ein winziger Laden, der spezialisiert war auf Juwelen, Reiskocher, Wandschirme, Bambuskörbe, Tee, Kräuter, Gewürze oder Bücher über Akupunktur, Kung-Fu und die unergründlichen Weisheiten Buddhas.
An den Scheiben der Restaurants klebten rissige Speisekarten mit verblassten Fotos von Nudelsuppen mit Meeresfrüchten, Reisgerichten und glasiertem Geflügel. Hinter den Fenstern saßen Touristen aus aller Welt und Chinesen aus Chinatown an niedrigen Holztischen und tranken Reiswein aus eckigen Holzgefäßen oder aromatischen Tee, der in winzigen Porzellankannen auf Messingstövchen warm gehalten wurde. Zierliche Frauen im seidenen Cheongsam schwebten zwischen den Tischen unermüdlich von Verbeugung zu Verbeugung und Lächeln zu Lächeln, das ebenso unergründlich war wie Buddhas Weisheit.
Der Commissaris ging weiter, aber nicht mehr so schnell. Er schob sich durch die dichte Menge, in Gedanken bei Ton Gallos Anruf und der Aussicht auf einen Mörder namens Zheng Wu. Er passierte Fo Kuang Shan, den buddhistischen Tempel, dessen ockerfarbene Fassade mit liebevollen Verzierungen in Rot, Gold, Violett und Grün prunkte, und etwas später erreichte er das chinesische Kaufhaus Toko Dun Yong, sechs Stockwerke voll mit schimmernden Wandteppichen aus Seide und Qiatos aus Brokat; mit lackierten Schachteln, Dosen und Kästen in allen Größen, Samurai-Schwertern in allen Längen, Buddha-Statuen aus allen Materialien und schlanken Vasen aus sämtlichen Dynastien.
Van Leeuwen blieb wieder stehen, um die Hausnummern zu kontrollieren. Er war zu weit gegangen und kehrte um. Durch ein offenes Kellerfenster sah er eine Gruppe junger Chinesen in schwarzen Trainingsanzügen und schwarzen Lederjacken, die sich vor einem Farbfernseher drängten und auf einen halb nackten Rapper aus Shanghai starrten. Sie rauchten und überschrien sich gegenseitig mit abgehackten, kehligen Lauten. Auf dem Bodenlagen Ledermatten, und an den Wänden hingen Plakate
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