TotenEngel
Beerdigung kam er an jedem Sonntag hierher, noch vor dem Frühstück. Am Anfang wäre er am liebsten jeden Tag zum Friedhof gefahren, aber er wusste, dass er aufpassen musste, damit er nicht in einen Sog geriet, aus dem er nicht wieder herausfand. Er wartete also immer bis zum Sonntagmorgen. Er nahm die Straßenbahn bis kurz vor Zorgvlied, und dort stieg er aus und ging zu Sims Grab. Er saß allein in der Tram, und er war allein auf dem Friedhof; andere Leute hatten aufgehört zu existieren. Wenn sie redeten, hörte er nicht, was sie sagten, und ihre Stimmen schienen von nirgendwo herzukommen.
Er tat jedes Mal dasselbe: Er zog seinen Mantel aus, faltete ihn zu einem Kissen und setzte sich darauf. Der Grabstein war schlicht, aus Granit, und darauf stand Simones Name und wie lange sie gelebt hatte. Van Leeuwen sah ihn an, aber er konnte ihn nicht wirklich sehen. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass seine Frau darunterlag. Die Erde war braun. Die Bäume ringsumher waren braun und grün, und manche waren dunkelrot. Der Fluss auf der anderen Seite des eisernen Gitterzauns war blau oder grau oder grün, und die Luft roch nach Harz, Gras, Tang und Rinde. Er konnte die Farben nicht sehen und die Gerüche nicht riechen. Er hörte weder den Wind in den Bäumen noch das Rauschen des Flusses. Es war, als befände er sich in einem Wachkoma, in das ergefallen war, als er seinen Verlust zum ersten Mal wirklich begriffen hatte.
Die Beklemmung war so plötzlich und so groß gewesen, dass er nicht mehr hatte atmen können. Sie hatte sein Herz zusammengedrückt und die Konturen der Dinge und der Menschen verwischt, sodass sie ihm fremd geworden waren, und so war es eine ganze Zeit nach Simones Tod gewesen. Vertraut waren ihm nur noch die Erinnerungen, in denen er blätterte, vor und zurück, und irgendwann dachte er, dass sie wie die Schalen einer Zwiebel in Schichten um einen gemeinsamen Mittelpunkt lagen. Es war immer derselbe Mittelpunkt, den es nur noch in diesen Erinnerungen gab. Das machte sie so traurig; wie bei einer Zwiebel konnte es passieren, dass man auf einmal losheulte.
An einem Tag wie heute , so fing es manchmal an: An einem Tag wie heute im Frühherbst, an dem die Luft wie kühler Samt war und einem beim Atmen schon mit einem ersten Anflug von Kälte in den Lungen stach, da war er mit Sim draußen beim Reitstall der Polizei gewesen, und als sie dort eintrafen, wurde gerade ein junger Rotfuchs trainiert. Mit flatternder Mähne, der Hufschlag auf dem trockenen Boden hart und von kaum gebändigter, übermütiger Kraft, trabte der junge Hengst über den Hof. Seine Nüstern bliesen weiße Atemwolken in die scharfe Luft. Unter dem Fell spielten die Muskeln, der Schweif stand aufgerichtet in einem gleichmäßigen Bogen, und es war Liebe auf den ersten Blick für beide, Simone und den Rotfuchs. Ein Zungenschnalzen, und er trabte sofort zu ihr und blieb vor ihr stehen, bevor er sie sacht mit der Schnauze anstieß. Sie hatte ihre Stirn an seiner Blesse gerieben. Mit geschlossenen Augen hatte sie den warmen, süßlichen Pferdegeruch eingesogen, seinem Schnauben gelauscht und gelächelt, als steckte in dem großen, scheuen Tier ein Engel, der ihr gerade ein Geheimnis anvertraute.
Eine Erinnerung; nur eine.
Aber an einem anderen Tag wie heute, einem diesigen Tag, an dem man die Sonne wie warmes Gold empfand, waren sie nach Zandvoort gefahren, um am Meer spazieren zu gehen, außerhalbder Saison, wo sie den Strand fast für sich allein hatten. Es hatte so viele Tage wie heute gegeben, aber immer mehr davon waren ungenutzt verstrichen. Warum waren sie nur noch einmal zum Reitstall hinausgefahren und niemals mehr nach Zandvoort im Frühherbst? Warum hatten sie nie wieder Artischocken mit zerlassener Butter gegessen, nur die Herzen, mit Weißbrot? Sie hatten es vorgehabt, das und vieles andere. Sie hatten es vorgehabt und immer wieder hinausgeschoben und nie daran gedacht, dass es eines Tages zu spät sein könnte; dass einer von ihnen nicht mehr da sein würde.
Damals, an all diesen Tagen wie heute, war Sim jung gewesen, schön und sprühend vor Lebendigkeit. Nirgendwo die geringste Spur – nicht mal eine Ahnung – von der Frau mit dem igelkurz geschnittenen grauen Haar, die ihn später verwirrt und ängstlich im Morgenrock erwartet hatte, wenn er abends von der Arbeit nach Hause gekommen war. Was diese beiden Frauen verbunden hatte, waren die Augen gewesen: groß und braun, voller Zärtlichkeit und Staunen. In diese
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