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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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Augen hatte er sich bei ihrer ersten Begegnung vor fast vierzig Jahren verliebt. Er hatte gewusst, dass sie immer gleich bleiben würden, selbst wenn alles andere sich veränderte, und so war es dann auch gewesen – er sah die Augen und ihr Lächeln und darin die Frau, die er geheiratet hatte, als sie beide jung gewesen waren. Er schaute sie an, und er sah beide Frauen, und jetzt waren beide tot.
    Es hatte lange gedauert, bis er die Erinnerungen rationieren konnte; bis er wieder ein Gespür für die Gegenwart fand. Er wuchs aus dem Koma heraus, indem er die Dinge und die Menschen mit Simones Augen sah. Dadurch gewannen sie ihre Schärfe zurück. Er sah etwas und sagte sich: Wie Sim das wohl gefunden hätte? Oder: Das würde Sim gefallen . Aber es wurde ihm nicht wirklich bewusst. Er sah eine Zeit lang einfach andere Dinge, und erst nach und nach sah er alles wieder so, wie er es immer gesehen hatte.
    Die Sonne schien auf die Kiefern und Ulmen, auf die Kastanien, die Eichen und Tannen, die mit ihrem Grün ein Gewölbe über den Gräbern bildeten, ein rauschendes, raschelndes Dach aus dunklen und hellen Blättern, spätsommerlich, herbstlich. Umwuchertvon Gestrüpp, aus dem hier und da eine Blume leuchtete. Wenn der Wind über die Amstel heranwehte, geriet der ganze Friedhof in Aufruhr, das dunkle und das helle Grün, die silbernen Nadeln. Und Bruno van Leeuwen, der Zurückgebliebene, stand am Grab seiner Frau und suchte Streit mit der Schöpfung. Er bebte vor Zorn darüber, dass all diese Schönheit nur noch für ihn allein sein sollte, denn dann war sie für niemanden; er konnte mit ihr nichts mehr anfangen.
    Eines Tages war er schließlich so wütend gewesen, dass er endgültig erwacht war und gedacht hatte: Du musst es für sie sehen. Die würzigen Gerüche sind nicht für dich, sondern für sie. Die Spinnweben wie Kupferfäden im funkelnden Gras, die singenden Vögel, die karmesinroten und löwenzahngelben Blumen; du weißt, wie sehr ihr das alles gefallen hätte, wie sie darin aufgegangen wäre. Also setzte er sich auf seinem zum Kissen gefalteten Trenchcoat zu ihr und betrachtete es für sie, und langsam füllte sich der leere Raum in seinem Herzen.
    Es gab auf diesem großen Friedhof voller verschlungener Pfade und in dichten Gruppen stehender Bäume Hunderte und Aberhunderte von Grabstätten. Manche waren groß wie Mausoleen, mit Statuen aus Marmor in allen Farben oder Schmiedeeisen oder verwittertem Fels. Es gab graue, moosbewachsene Gedenksteine mit kaum mehr leserlichen Inschriften wie auf dem kleinen Friedhof in seinem Dorf, auf dem er sich als Kind versteckt hatte, wenn er über die Welt nachdenken musste. Aber es gab auch andere Grabstätten, auf denen statt frischer Schnittblumen halb volle Bierflaschen standen, und hier und da blitzten goldverzierte Kreuze durch das Dickicht, mit abstrakten, bunten, fröhlichen Mosaiken geschmückt.
    Als er den Möwen lange genug zugesehen hatte, um ihre Tauglichkeit als Hülle für ein gemeinsames nächstes Leben zu prüfen, stand Van Leeuwen auf und vertrat sich ein wenig die Füße. Die Erde war bereits mit dem ersten Herbstlaub bedeckt, das seine Schritte abfederte wie ein dicker Teppich. Ein fruchtbarer Geruch stieg daraus auf und vermischte sich mit dem Duft von Gras, Harzund trockener Rinde. Das einzige Geräusch war das stete Fließen des Wassers oder das Rauschen des Windes in den Kronen der Bäume, in dem alles andere unterging: die eiligen Sprünge eines Eichhörnchens, die fernen Schreie der Möwen oder das Tuten der Frachtkähne auf dem Fluss. Van Leeuwen blieb stehen und sah nach oben, hinauf zum Wipfel einer Tanne, die alle anderen Bäume überragte und sich schwach hin und her wiegte. Das Muster ihrer Zweige, das Geflecht aus Sonnenglanz und vielfältigem Grün, veränderte sich fortwährend, und ihm wurde schwindlig.
    Er dachte an den jungen Lehrer, der aufgeschnitten in der Pathologie lag, an seine Worte: Ich ersticke!
    Er dachte an den Mörder, der Menschen tötete, indem er ihnen eine Plastiktüte über den Kopf streifte und sie darunter ersticken ließ. Er spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief, denn im selben Moment merkte er, dass er in der Mehrzahl gedacht hatte, obwohl es nur ein Opfer gab. Warum hatte er das Gefühl, es könnten mehr werden; es könnte nicht bei dem einen bleiben?
    Früher hätte er mit Simone eine Flasche Wein aufgemacht und ihr von dem Toten erzählt; er hätte ihr von beiden Toten erzählt und den beiden

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