TotenEngel
glaubte er, ich unterstelle ihm etwas.
Da, wo der Junge herkam, in seinem Umfeld, seinem Viertel, bestand die seelische Landkarte noch aus vielen weißen Flecken. Grenzen, hinter denen Ungeheuer lauerten. Und als der Commissaris ihn jetzt vor seinem inneren Auge sah, fragte er sich, wie viel von Ruud sein Viertel war; wo Slootervaart endete und der Junge begann.
Er wischte sich den Mund mit einer Papierserviette aus dem Spender auf der Theke vor dem Getränkeautomaten ab, kaufte von seinen letzten Münzen eine Dose Sprite und beschloss, nach Hause zu gehen, um seinen Schreibtischpflichten nachzukommen. Als er den Febo verließ, stieß er beinahe mit Ton Gallo zusammen.
»Hey, Bruno«, entfuhr es Ton überrascht. »Ich bin halb verhungert.«
Van Leeuwen sagte: »Die Satékroketten sind gut. Wenn du genug Geld dabeihast, nehme ich auch noch eine.«
»Was trinkst du da – Sprite? Ist das der Wein der späten Jahre? Ich glaube, ich nehme ein Bier.«
»Gibt es was Neues?«, fragte der Commissaris. Er sah zu, wieGallo sein Geld zählte, und stellte fest, dass es für sie beide reichte. »Wissen wir inzwischen mehr über die Pistole?«
Gallo warf ein paar Münzen in die Geldschlitze und wählte einen Kipburger für sich und eine weitere Satékrokette für Van Leeuwen. »Zuiker hat die Waffe vor ein paar Wochen ganz legal bei einem lizenzierten Händler im Internet gekauft, aber offenbar ohne Munition, und es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass er sich die Patronen woanders besorgt hätte. Entweder hatte er nie vor, sie wirklich zu benutzen, und trug sie nur zur Abschreckung bei sich …«
»Oder er ist noch nicht dazu gekommen, die Munition zu kaufen«, ergänzte Van Leeuwen. »Ich glaube sowieso nicht, dass diese Spur uns zum Täter führt.« Er dachte an seine Dienstwaffe, die er ungeladen neben der Schachtel mit Munition in der Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte. Eine Zeit lang hatte er sie zu Hause gehabt, aber nach Simones Tod war ihm ihre Nähe zu gefährlich gewesen. Bei sich trug er sie fast nie; er dachte, dass er sie dann auch nicht benutzen müsste. Vielleicht hatte Gerrit Zuiker das Gleiche über die Munition gedacht.
Während er aß, stellte Gallo sich mit dem Rücken zur Wand. »Die Befragungen der Eltern haben auch keine neuen Erkenntnisse gebracht«, berichtete er. »Bist du weitergekommen?«
»Das weiß ich noch nicht«, sagte Van Leeuwen. Die Ragoutfüllung der Krokette verbrannte ihm die Zunge. »Vielleicht hilft mir der eine Fall beim anderen. Es hat sich herausgestellt, dass Gerrit Zuikers Frau eine Affäre mit seinem besten Freund hat, Pieter Hoekstra, dem Turnlehrer. Und während ich mit Hoekstra über Zuiker gesprochen habe, kam mir plötzlich der Gedanke, dass der Mord an Jun Wu einen ähnlichen Auslöser gehabt haben könnte. Zheng hat eine sehr schöne junge Frau, die er allein in China zurücklassen musste. Als ich ihn dann im Verhör darauf angesprochen habe, hat er sie allerdings entschieden in Schutz genommen, bevor er jede weitere Aussage verweigerte. Daraufhin hat Procureur Piryns veranlasst, dass Ailing Wu zur Befragung von Fengdu hierher überstellt wird.«
»Und Zuiker? Wusste der was von dem Verhältnis seiner Frau?«
»Sie behauptet es, und einer seiner Schüler auch«, antwortete Van Leeuwen. »Zuiker wusste Bescheid, hatte aber nichts dagegen unternommen, warum auch immer. Außerdem sieht es so aus, als hätte er ein ganz besonderes Faible für diesen Schüler gehabt, einen gewissen Ruud Meijer, der ihn aber genauso verachtet hat wie seine Frau. Zumindest tut er so – Ruud, meine ich –, doch es kann durchaus sein, dass der Junge Gerrits Gefühle erwidert hat.«
Gallo hörte auf zu essen. »Reden wir gerade über Verführung Minderjähriger?«
Van Leeuwen überlegte einen Moment. »Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Es war wohl eher eine starke Anziehung, die beide gespürt haben. So was gibt es ja manchmal zwischen Lehrern und Schülern, wenn da einer ist, der besonders schnell begreift, voller Wissensdurst steckt, und der andere – mit Leib und Seele Lehrer – das Gefühl hat, dass er endlich den einen unter hundert gefunden hat, bei dem sich die ganze Mühe lohnt. Vielleicht ist Gerrit etwas über das Ziel hinausgeschossen, hat sich zu einer falschen Geste, einem unbedachten Wort hinreißen lassen. Dieser Ruud Meijer ist ein aufgeweckter junger Bursche, aber die Verhältnisse, aus denen er stammt, stehen ihm im Weg. Wenn man eine Annäherung
Weitere Kostenlose Bücher