TotenEngel
nicht erwidern kann, weist man sie manchmal zu heftig zurück, was wiederum dazu führen kann, dass sie noch heftiger wiederholt wird. Ich glaube nicht, dass Gerrit schwul war, aber Ruud hat das vielleicht gedacht und – mitten in der Pubertät – noch nicht gewusst, wie es um seine eigene sexuelle Identität bestellt ist. Deswegen ist er wahrscheinlich an dem Abend, als Gerrit ihm gefolgt ist, zu den Mädchen auf den Wallen gegangen, wie vermutlich an anderen Abenden auch. Er sieht gut aus, und auf den Wallen gibt es jede Menge Frauen, und keine sagt Nein, anders als viele Mädchen in seinem Alter. Man kann sein Taschengeld auf sinnlosere Weise ausgeben.«
»Meinst du, dass es zwischen den beiden da in der Nacht zu einem Zusammenstoß gekommen ist?«, hakte Gallo nach. »Hast du den Jungen danach gefragt?«
»Ja, aber mehr nach der chinesischen Methode der höflichen Umschreibung.« Van Leeuwen war auch mit der zweiten Krokette fertig und leerte die Sprite-Dose. »Jedenfalls glaube ich nicht, dass er was mit dem Mord an Gerrit Zuiker zu tun hat. Das hätte ich gemerkt, als wir uns unterhalten haben.«
»Möchtest du noch was?«, wollte Gallo wissen. »Nein?« Er ging zum Tresen, wo eine neue Ladung frittierter Chicken wings im roten Licht der Wärmelampen über dem brodelnden Öl schwebten wie Verdammte über dem Höllenfeuer. Mit einer Dose Heineken in der Hand kehrte er zurück. »Also bleibt noch der Mann in dem transparenten Plastikregenmantel, den diese Cherry gesehen hat.«
Van Leeuwen nickte. »Stell dir vor, du bist abends auf den Wallen unterwegs, mit einer Aktentasche, in der sich eine Walther befindet, und verfolgst einen fünfzehnjährigen Jungen …«
»Warum sollte ich das tun?«
»Und jetzt stell dir vor, ich tauche plötzlich hinter dir auf und überfalle dich, ziehe dir eine Plastiktüte über den Kopf und ersticke dich …«
»Warum solltest du das tun?«
»Genau das ist die Frage – warum tue ich das? Was hat der Mörder für ein Motiv?«
»Vielleicht wollte er freie Bahn bei der Frau haben«, meinte Gallo. »Als Turnlehrer müsste Hoekstra kräftig genug sein, um jemand auf diese Weise zu töten, mit einer Plastiktüte über dem Kopf.«
»Margriet Zuiker behauptet, er wäre zu so was nicht in der Lage, und ich traue es ihm eigentlich auch nicht zu. Hoekstra ist eher der Typ, der sich auf die Seite des Freundes schlägt, wenn alles rauskommt und er sich entscheiden muss. Allerdings hatte ich noch keine Gelegenheit, ihn mit der neuen Ermittlungslage zu konfrontieren. Er ist nach unserer Unterhaltung ganz plötzlich verschwunden.«
»Sollen wir ihn zur Fahndung ausschreiben?«, fragte Gallo.
»Vielleicht. Falls er bis morgen früh nicht wieder auftaucht.«
»Aber für alle Fälle sollten wir jemanden vor Margriet ZuikersHaus postieren«, sagte Gallo. »Könnte ja sein, dass sie schon auf gepackten Koffern sitzt.«
Van Leeuwen nickte.
»Und was machen wir mit dem Jungen, diesem Ruud Meijer?«
»Erst mal abwarten«, erklärte Van Leeuwen. »Er hat noch gar nicht richtig begriffen, dass sein Lehrer tot ist und dass er vielleicht dazu beigetragen hat. Er tut unglaublich cool, aber er ist noch ein Kind, in dessen Haut ich in den kommenden Nächten nicht stecken möchte.«
»Was war das denn für eine Situation, in der er seinen Lehrer gefilmt hat?«, fragte Gallo.
Van Leeuwen beschrieb ihm den kurzen Clip, den er auf You-Tube gesehen hatte. »Aufgenommen mit einem Filmhandy! Soll ich dir sagen, was aus dem glorreichen Internet geworden ist? Ein öffentliches Pissoir, an dessen Wände im Schutz der Anonymität Klatsch, Gerüchte und Verleumdungen gekritzelt werden. Ein globaler Basar, auf dem Terroristen öffentliche Hinrichtungen inszenieren. Ein Dschungel, in dem Perverse ihren abartigen Neigungen nachgehen und kleine Kinder zum Missbrauch freigegeben sind. Ein Ort des Faustrechts, der Schamlosigkeit, der Menschenjagd, in dem jeder von jedem zu Tode gehetzt werden kann, nur mit einem Handy. Eine Parallelwelt aus Datenströmen, die von frustrierten Seelen mit ihrer Wut und ihrem Schmerz gespeist werden, unzählige gebrochene Dämme vor den abgenutzten Tastaturen billiger Computer.«
Gallo trank von seinem Bier und betrachtete die Passanten, die am Eingang des Febo vorbeischlenderten, späte Büroangestellte, amerikanische Tramper in gefütterten Outdoor-Jacken, ein gepflegtes älteres Ehepaar mit einem schwarzen Pudel, lauter Statisten auf einem hell angestrahlten Bühnenbild: 1.
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