TotenEngel
sollte eine Frau wie sie denn mit einer Waffe? Sie war krank, und sie wurde getötet. Meinst du, sie hätte sich vielleicht selbst töten wollen?«
Der Commissaris schwieg. Plötzlich fielen ihm die Berichte in den Zeitungen der letzten Woche wieder ein, die Fotos, die Beiträge im Fernsehen, alle über Klaas van der Meer. »Ich würde mir wirklich gern ihre Wohnung ansehen«, sagte er. »Am liebsten noch heute.«
Sinnege räusperte sich. »Meinetwegen«, meinte er. »Komm vorbei, und hol dir den Schlüssel ab. Ich bin bis achtzehn Uhr im Büro.«
»Danke, Jan. Ich fahre sofort los.«
Van Leeuwen legte auf und konsultierte seine Armbanduhr. Es war noch nicht einmal zehn am Montagmorgen. Er lehnte sich in seinem Drehsessel zurück und sah seine Mannschaft an. »Was haltet ihr von Euthanasie?«, fragte er.
»Interessant ist doch eher, was Sie davon halten, Mijnheer van Leeuwen«, sagte eine Stimme hinter ihm, die Stimme einer Frau. Als er sich zur Tür umdrehte, wo die Frau stand, fiel ihm wieder ein, dass Doktor Holthuysen sie als schön bezeichnet hatte, und er dachte, dass ihm selbst dieses Wort nicht als Erstes in den Sinn gekommen wäre. Aber wie sie da so stand, an den Türrahmen gelehnt, musste man sagen: Eigentlich stimmt es, Doktor Menardi ist eine schöne Frau.
Vielleicht war schön auch nicht der zutreffende Ausdruck, zu nichtssagend für jemand, dem mit dem Wort rassig eher Gerechtigkeit widerfuhr? Durfte man den Begriff überhaupt noch verwenden? Doktor Feline Menardi trug einen anthrazitfarbenen Hosenanzug aus Rohseide, dazu einen bordeauxroten Rollkragenpullover, der nur aus Kaschmir sein konnte. Ihre Haare, deren Farbton irgendwo zwischen Kastanie und Ebenholz lag, waren straff zurückgekämmt und zu einem rückenlangen, schlanken Zopf geflochten.
Ganz wunderbar, dachte der Commissaris, für ein Phantombild wäre sie einfach zu beschreiben: die tiefbraunen Augen, leicht mandelförmig geschnitten, und der schwache Olivton der Haut, die hoch angesetzten Wangenknochen: wahrscheinlich indonesische Vorfahren. Für die Lippen musste man Rot und Haselnuss mischen, etwas kräftiger noch, etwas voller, so, genau , und die Figur –mittelgroß, aber ideal für eine Frau knapp über vierzig. Da stand also diese Frau, stützte sich mit einem Arm, nur mit der Elle, in Kopfhöhe am Türrahmen ab und fragte: »Warum interessieren Sie sich für Sterbehilfe, Mijnheer?« Sie lächelte nicht. Sie sagte: »Ich hätte Sie auch anrufen können, um einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren, aber wir hatten ja bisher noch nie miteinander zu tun, und den ersten Eindruck gewinne ich gern von Angesicht zu Angesicht, außerhalb meines Büros. Der Hoofdcommissaris hat mich gebeten …«, sie unterbrach sich, immer noch nicht lächelnd, »oder komme ich gerade ungelegen?«
»Leider«, griff der Commissaris diese Vorgabe dankbar auf, »vollkommen ungelegen. Ich muss sofort weg.« Er stand auf, fuhr in sein Sakko und scheuchte Gallo, Vreeling und Julika mit einem Nicken aus dem Raum, in der Hoffnung, sie würden die Psychologin einfach von der Schwelle spülen. Doch die wich ihnen geschickt aus und trat zurück in die Tür, bevor auch Van Leeuwen an ihr vorbeischlüpfen konnte.
»Wann passt es Ihnen denn besser?«, erkundigte sie sich.
»Zu Sinterklaas, am fünften Dezember.« Auch er lächelte nicht. »Oder an Silvester.«
20
Auf der rechten Seite der Straße erstreckte sich ein Hafen hinter dem anderen, erst der Westhaven, dann der Amerikahaven und etwas später der Afrikahaven, und überall ragten Kräne und Öltanks und Raffinerien aus dem Dunst in den silberblauen Himmel. Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern von Bürogebäuden und lag blendend auf den Aluminiumverschalungen klobiger Silos und dem Weiß frisch gestrichener Containerschiffe. Das Wasser in den Hafenbecken war graugrün, mit leichten Schaumkronen auf den Wellen. Die Luft roch nach Salz, Jod und vermoderten Pflanzen. Linker Hand blieben die Häuser von Geuzenveld zurück, und wenn der Commissaris an Gallo vorbei durch die Fenster auf derFahrerseite des Golf blickte, konnte er ganz in der Ferne die Flugzeuge auf Schiphol zuschweben sehen.
Eins davon kam aus Shanghai, und Ailing Wu saß darin, jetzt noch nicht, aber bald.
Es war nicht sehr weit bis Haarlem. Gallo fuhr schnell, und die Straße war eine hypnotische schwarze Fläche, die dem Wagen entgegenflog, gesäumt von Verkehrsschildern und Reklametafeln. Hinter langsamer vorbeigleitenden Lagerhallen und
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