TotenEngel
Menschlichkeit, des Mitleids selbst – er ließ es aussehen wie einen Schauprozess gegen den guten Hirten, der einer von Doppelmoral geprägten Gesellschaft die Maske vom Gesicht reißt. Die Richter, sagte er, entschieden in Wirklichkeit nicht über einen Arzt, der seine Patienten von ihrem Leid erlöste, sondern darüber, wie viel Leid jeder von uns zu ertragen hätte – du und ich und die Richter und alle anderen –, wie viele Qualen und Schmerzen, bevor wir endlich sterben dürften. Van der Meer sagte, er gebe den Todkranken ihre Würde zurück. Der Staatsanwalt dagegen sagte im Grunde nur: Zieht dem Mann den weißen Kittel und die ganzen Sentimentalitäten aus, dann habt ihr nichts anderes als einen Serienmörder.«
»Und du?«, fragte Gallo. »Was sagst du?«
Van Leeuwen sah aus dem Fenster, auf den vorbeifliegenden Mais. »Ich habe damals mit einigen Angehörigen gesprochen«, erzählte er, »Angehörigen seiner Patienten, einfach um mir selbst ein Bild zu machen. Die meisten waren ihm unendlich dankbar, sie haben ihn verehrt, weil sie ohne seine Hilfe die Qualen ihrer Verwandten nicht mehr ertragen hätten, von Menschen, deren Körper von Krebs oder Multipler Sklerose zerfressen und entstellt waren, die grauenhafte Schmerzen litten. Aber ein paar waren dabei, da konnte ich spüren, dass sie logen – es waren Heuchler, die einfach nur ihre unbequem gewordenen Angehörigen aus dem Weg haben wollten. Wusste Van der Meer das? Hatte er wirklich alle Chancen auf Heilung oder Linderung des Leids ausgeschöpft? Oder hielt er sich für unfehlbar, für Gott, war er im Grunde nur ein eitler und größenwahnsinniger Mörder?«
Der Commissaris erinnerte sich daran, wie an einem der Verhandlungstage in dem abgedunkelten Gerichtssaal ein Video von dem elfjährigen Tom gezeigt worden war, der sterben wollte. Er erinnerte sich an das eingefallene Gesicht des Jungen, die großen, strahlenden Augen wie zwei Sterne kurz vor dem Erlöschen und die Knochen, von denen die Haut nicht zu unterscheiden war,als wäre sie mit einer Spraydose aufgetragen worden. Er erinnerte sich an das atemlose Schweigen im Raum, als der Junge in die Kamera geflüstert hatte: Bitte, bitte, ich will nicht mehr leben! Es tut so weh … tut so weh. Bitte hilf mir! Und er erinnerte sich an das unterdrückte Schluchzen im Publikum, als Van der Meers Hand die dünne Hand des Jungen festhielt und mit tränenerstickter Stimme raunte: Hab keine Angst, ich bin bei dir, ich helfe dir. Es ist bald vorbei. Und wie der Junge zu lächeln versuchte. Ich bin Mama nicht böse, Papa auch nicht, aber … tut so weh …
»Was sagst du? «, wiederholte Gallo seine Frage. Er setzte den Blinker und beschleunigte, um das Wohnmobil zu überholen, doch als er einen Wagen auf der Gegenfahrbahn bemerkte, drosselte er das Tempo wieder und blieb in der Spur.
Der Commissaris antwortete nicht, sondern dachte an einen anderen Tag im Gericht, an dem Klaas van der Meer im Zeugenstand gesessen hatte: ein großer, hagerer Mann mit kurz geschorenen weißen Haaren und einem grauen Bartschatten um das straffe Kinn, der seine Schultern in einem zu weiten Pullover nach vorn hängen ließ, während der Staatsanwalt in scharfem, selbstgerechtem Ton verkündete, dass es nur ein kleiner Schritt sei, der den Arzt von Auschwitz trenne, ein winziger Schritt, Doktor Mengele, und wir sprechen wieder von lebensunwertem Leben, ein winziger Schritt, bis wir nicht nur unheilbar Kranken die Spritze geben, sondern auch Behinderten und geistig Verwirrten und schließlich jedem, der anders ist als wir .
Plötzlich sprang jemand im Publikum auf, eine Frau in einem schwarzen Kostüm, die Van der Meer mit schriller Stimme und verzerrtem Gesicht anschrie : Du bist kein Mensch, du bist ein Mörder! Gott wird dich mit der Hölle strafen! Und der Arzt saß da wie erstarrt, nichts an ihm bewegte sich, nur seine Augen. Die Pupillen zuckten hin und her, und die Lider blinzelten, ein rasendes Flattern. Seine Augen sahen aus wie wahnsinnige Vögel, die sich aus ihren Höhlen auf die Frau stürzen wollten.
»Ich kann ihn nicht verurteilen«, bekannte der Commissaris, »aber mir stehen die Haare zu Berge.«
Gallo sagte: »Heleen Soeteman war von ihrer Krankheit so geschwächt, dass es sogar einem alten Mann wie Van der Meer möglich gewesen wäre, sie mit einer Plastiktüte zu ersticken, unerkannt, weil er die Spritze nicht mehr benutzen durfte. Aber Gerrit Zuiker?«
Er scherte erneut aus, um zum Überholen
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