TotenEngel
setzte mehrmals zum Überholen an, aber die an den Seiten unbefestigte Fahrbahn bot nicht genug Platz.
Der Commissaris dachte an die tote Frau und an das, was der junge Tankwart über sie erzählt hatte. Es war keine ungewöhnliche Geschichte. Van Leeuwen hatte sie schon oft gehört, und er war nicht der Einzige. Jeder Polizist kannte sie, kannte Frauen wie Heleen Soeteman und Kinder wie Pim Verhoeven, und natürlich kannte auch jeder Polizist Männer wie Alex Carlsen, und niemand wunderte sich mehr darüber, wie viele es waren. Die Frauen liefen weg und kamen zurück und liefen erneut weg. Die Männer schlugen und bereuten und schlugen wieder, und alles war vergessen, sobald die blauen Flecken verblassten, die Brüche heilten, die ausgerissenen Haare nachwuchsen. Denn zwischen den Mauern aus Leiden und Schweigen blühte stets aufs Neue die Hoffnung; sie war wie Unkraut, das sich nicht ausrotten ließ. Und selbst wenn es weit und breit keine Hoffnung mehr gab, nicht das geringste Fünkchen, selbst dann kam immer noch auf jeden Mann, der schlagen, terrorisieren und beherrschen wollte, eine Frau, die nicht anders konnte, als die Unterwerfung zu suchen, das Elend und die Schläge.
Van Leeuwen drehte sich zu Inspecteur Vreeling und Brigadier Tambur um. Die Stiefel standen in einer Plastiktüte zwischen ihnen auf dem Boden. Julika saß in dem schnellen Flackern von Sonnenschein und Schatten über einen Pappbecher mit Kaffee gebeugt, den sie sich in der Tankstelle an einem Automaten gezogen hatte. Sie hielt den Becher in beiden Händen dicht an ihr Gesicht, trank aber nicht, sondern starrte über den Rand des Bechers hinweg ins Leere.
»Alles in Ordnung, Brigadier Tambur?«, erkundigte sich der Commissaris.
»Ja«, antwortete sie, »natürlich, keine Sorge.« Der Dampf des heißen Kaffees stieg ihr in die Nasenlöcher und kroch gleich darauf wieder heraus, als handelte es sich um eine Sackgasse. Sie setzte den Becher an die Lippen, trank aber nicht. »Ich glaube nicht, dass der Junge etwas mit Heleens Tod zu tun hat.«
»Warten wir die Untersuchung der Stiefel ab – der Erde undder DNS -Spuren –, dann wissen wir, ob er die Wahrheit gesagt hat«, meinte der Commissaris. »Auf alle Fälle sollen Hoofdagent Brugmans Männer sich noch mal in de wallen umhören, ob da jemand in der Nacht von Gerrit Zuikers Tod ein Motorrad gesehen hat, eine Motoguzzi mit einer Geweih-Lenkstange und einem Fahrer, dessen Helm die Aufschrift Easy Rider trug.«
»Dieser Doktor van der Meer«, fragte Inspecteur Vreeling, »wieso wird der eigentlich in den Zeitungen Doktor Death genannt? Er bewegt sich doch innerhalb der Euthanasiegesetze, oder nicht?«
»Der Name stammt noch aus der Zeit davor«, erklärte der Commissaris, »als Euthanasie geduldet, aber nicht erlaubt war. In den Neunzigerjahren gab es in Amerika einen Arzt, der in einem weißen VW-Bus durchs Land fuhr und an sterbenskranken Patienten Tötungen auf Verlangen durchführte. Er ließ sie Kohlenmonoxid einatmen oder verabreichte ihnen Kaliumchlorid-Injektionen. Die amerikanischen Medien haben ihm den Spitznamen Doctor Death gegeben, und weil unsere Zeitungen alles nachmachen, was aus Amerika kommt, hatte plötzlich auch Van der Meer diesen Namen weg. Außerdem stimmt das nicht, was du sagst, Remco: Ein Kind unter vierzehn – auch ein sterbenskrankes – gegen den Willen der Eltern zu töten und ohne einen zweiten Arzt hinzuzuziehen, ist durch kein Gesetz gedeckt, egal, wie sehr dieses Kind nach der Erlösung verlangt. Und Van der Meer bewegt sich auch nicht innerhalb der Gesetze, wenn er Lebensmüden, die weder krank sind noch sonst an irgendwelchen Schmerzen leiden, mit einer Kaliumspritze hilft, Selbstmord zu begehen – das hat mit Sterbehilfe nichts zu tun, und es ist auch bei uns verboten!«
»Es gibt aber Leute, die ihn für einen Heiligen halten«, wandte Vreeling ein, »oder wenigstens für einen Märtyrer …«
»Natürlich gibt es die«, sagte der Commissaris, »und es gibt auch Leute, die glauben, dass Außeridische Leute wie dich und mich in fliegenden Untertassen entführen und auf ihren Planeten schreckliche Experimente mit ihnen veranstalten. Damals, nachdem ich Van der Meer verhaftet hatte, war ich ein paar Mal im Gericht bei den Verhandlungen, aber ich bin nicht wirklich schlau ausdiesem Mann geworden. Sein Verteidiger hat immer wieder auf die Tränendrüsen gedrückt und behauptet, nicht Klaas van der Meer stünde da unter Anklage, sondern die Idee der
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