TotenEngel
Gallo zum Commissaris. »Er hält sich für Martin Luther King.«
»Ich habe einen Traum«, wiederholte Vreeling störrisch.
»Träum weiter«, sagte Gallo. »Nicht mal Doktor King hätte davon geträumt, dass die holländische Verkehrspolizei einer so einfachen Aufgabe gewachsen sein könnte.«
Der Commissaris sah Brigadier Tambur nach, die immer tiefer in den Mais hineinging. Reglos hing der Staub zwischen den hohen Halmen, trieb sacht durch die Strahlen der allmählich sinkenden Sonne. Julika blieb stehen, beugte sich vor und stemmte die Hände gegen die Oberschenkel, den Kopf gesenkt, als hätte sie etwas zu ihren Füßen entdeckt, das ihre volle Aufmerksamkeit verlangte. Ihre Beine und Schultern zitterten noch immer.
Der Commissaris stieg aus und stapfte durch den Mais auf Julika zu. Als er sie erreicht hatte, fragte er: »Was ist los mit dir?«
»Feige«, keuchte Julika fast schluchzend, »alle sind so feige. So unendlich feige!« Sie war blass, und eine Gänsehaut überzog ihren Hals und das Brustbein über dem T-Shirt-Ausschnitt.
»Wer ist feige?«
Julika sah Van Leeuwen nicht an. »Die Männer. Wir alle. Ich!« Die Sonne schien sie zu blenden, aber sie achtete nicht darauf. »Dieses Schwein, dieser Alex Carlsen. Mein Vater. Und ich, vor allem ich. Haben Sie das nicht mitgekriegt eben, was für eine Angst ich hatte?!«
»Es war eine gefährliche Situation«, antwortete der Commissaris. »Wir haben Glück gehabt, dass es gut gegangen ist! Und du bist aufgewühlt, es hat dich an den Unfall erinnert …«
»Aber diese Frau, Heleen, die hatte keine Angst«, Julika schüttelte den Kopf, »die ist immer wieder zurückgekehrt, die hat sich diesem Arschloch gestellt, mit dem sie verheiratet war, hat die Prügel auf sich genommen und nicht gekniffen. Und dann ist sie gegangen, als sie so weit war. Das verlangt auch Mut, jemanden für immer hinter sich zu lassen und allein zu leben, mit einer qualvollen Krankheit …« Sie rieb sich die Augen mit dem Handballen.
»Dass sie immer wieder zurückgekehrt ist, war Dummheit«, widersprach der Commissaris schroff, »und dass sie dann endlich gegangen ist, war vernünftig, mehr nicht! Es war keine Heldentat, und vielleicht wäre sie gar nicht krank geworden, wenn sie diesen Schritt ein bisschen früher getan hätte.«
Er griff nach Julikas Arm und ging ein paar Schritte, führte sie mit sich, fort von dem Wagen. Als er stehen blieb, entzog sie ihm ihren Arm, nicht mit einem Ruck, aber entschieden. Sie brauchte ihn, um sich selbst zu umarmen und ihr Zittern zu verbergen.
»Jetzt hör mir mal zu, Brigadier Tambur«, sagte Van Leeuwen. »Es besteht ein großer Unterschied zwischen Feigheit und Angst. Es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben lang niemals feige sind, mit sechs nicht und mit sechzehn nicht. Sie sind mit dreißig nicht feige und auch nicht mit sechzig. Manche sind niemals feige bis zu ihrem Tod. Andere sind nie feige, bis sie dreißig oder sechzig werden, aber dann für den Rest ihres Lebens, weil sie plötzlich merken, dass sie sich verändern – dass das, was ihnen bisher die Kraft gegeben hat, tapfer zu sein, nachlässt und weiter nachlassen wird. Wieder andere sind als Kinder mutig und auch als Teenager tapfer und keine Spur von feige, bis ihnen irgendetwas widerfährt, das ihnen die Augen für das Leben öffnet, und plötzlich, vielleicht schon mit zwanzig oder dreißig, ist der ganze Mumm weg, und sie sind von da an feige, weil ihnen klar geworden ist, dass sie nicht unverwundbar sind. Dass niemand seine Hand über sie hält. Und dann gibt es noch welche, die nur in manchen Situationen feige sind, in anderen dagegen überraschend tapfer. Das sind die meisten.«
Er blickte auf die Maisblätter, über denen noch immer die aufgescheuchten Vögel kreisten. »Ein paar nur, ganz wenige«, fuhr erfort, »sind von Anfang an ängstlich, schon als Kind, und sie bleiben so ihr ganzes Leben, ängstlich und vorsichtig, aber sie sind nicht feige. Das Einzige, was zählt, ist der Unterschied: Mit Angst kann man leben, und manchmal muss man es sogar, weil sie ein guter Ratgeber ist. Mit Feigheit zu leben ist schwer. Es geht, doch es ist so schwer, weil es das ganze Leben verändert. So betrachtet, ist es besser, tapfer zu sein, aber nicht immer leichter. Und genau das stellst du gerade fest – dass du tapfer zu sein versuchst, doch dass es nicht immer leicht ist, vor allem, wenn man das erlebt hat, was du mit deinem Vater erlebt hast.«
Julika hörte langsam auf
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