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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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fröstelte. Er zog den Trenchcoat enger um sich. Was, wenn Simone Schmerzen gehabt hätte?, dachte er; wenn sie geschrien hätte vor Schmerzen, was hättest du dann getan?
    Kurz bevor er die Straße erreichte, wo er den letzten Bus nach Haarlem abpassen wollte, hörte er wieder das rostige Scharnier des Wetterhahns auf dem Turm. Er hörte es kreischen, und diesmal war es lauter. Es klang wie das Blech eines Autowracks, das von der Eisenschere eines Bergungstrupps auseinandergezwängt wurde. Der Commissaris blieb stehen, drehte sich um und schaute nach oben. Er sah, dass der Hahn sich nicht bewegte.

24
    Die junge Chinesin saß allein auf einer Holzbank in dem kleinen, hellen Büro der Königlichen Marechaussee in der Ankunftshalle des Flughafens Amsterdam Schiphol. Sie hielt den Kopf gesenkt, ihr Blick war auf den Boden gerichtet. Mit einer Handumklammerte sie den Griff ihres Koffers. Die Haut war fast weiß über den Knöcheln, und auch der Koffer war weiß, wo sich die Farbe von den Pappschalen gelöst hatte.
    Die junge Chinesin saß ganz am Ende der Bank. Sie trug einen roten Pullover, hellblaue Leinenhosen und schwarze Stiefeletten. Auf ihrem Schoß lag ein kastanienbrauner Mantel mit einem Kragen aus Kaninchenfell. Ihre schwarzen Haare waren zu einem Zopf geflochten. Außer ihrem Ehering trug sie keinerlei Schmuck, und weder ihr Mund noch ihre Augen waren geschminkt, sodass ihr Gesicht merkwürdig unvollendet wirkte.
    Die junge Chinesin bewegte sich nicht, und es schien, als achtete sie auch nicht auf die uniformierten Polizisten, die den Raum betraten oder verließen und ihr genauso wenig Aufmerksamkeit schenkten wie sie ihnen. Sie war bis zuletzt auf ihrem Platz in der kl M-Maschine aus Shanghai sitzen geblieben, bis alle anderen Passagiere das Flugzeug verlassen hatten. Dann waren zwei Beamte der Koninklijke Marechaussee an Bord gekommen und hatten sie in ihre Büros begleitet, wo sie jetzt darauf wartete, dass der Commissaris erschien, um sie abzuholen, was er mit einer Verspätung von fünfundzwanzig Minuten auch tat.
    Die ganze Fahrt hinaus nach Schiphol war Van Leeuwen fast so aufgeregt gewesen, als führe er zu einem lange erwarteten Rendezvous. Und im Grunde war er genau das, dachte er: ein Liebhaber, der seine Geliebte vom Flughafen abholte, auch wenn sie die Frau eines anderen war. Aber das, was er von ihr wollte, waren weder Umarmungen noch Küsse; es waren nur Worte. Deswegen schlug sein Herz schneller, als er auf die zarte, mit gesenktem Kopf am Ende der Holzbank sitzende Frau zutrat und auf Englisch sagte: »Mevrouw Wu – Ailing Wu? Mein Name ist Van Leeuwen, Commissaris Bruno van Leeuwen, und ich bin hier, um Sie abzuholen.«
    Zheng Wus Frau hob den Kopf und sah ihn an, erst ihn und dann die Dolmetscherin, die er mitgebracht hatte. Sie gab einige hell klingende Laute in wechselnder Tonlage von sich, die mit einem Fragezeichen zu enden schienen. »Ich möchte zu meinem Mann«, sagte die Dolmetscherin.
    Ailing Wus Gesicht war jung und müde, und winzige Fältchen der Erschöpfung zogen sich durch die pfefferfarbene Haut unter den Augen. In den großen Pupillen mischte sich dunkles Blau unter das glänzende Schwarz, das die ganzen Augen auszufüllen schien. Die schräg stehenden Wangenknochen traten weit hervor, sodass die Nase kaum mehr als eine wie zufällige Wölbung über dem kleinen Mund war.
    »Ich bringe Sie jetzt erst mal ins Hotel«, meinte der Commissaris, »und dann sehen wir weiter.« Auf Chinesisch klang es, als hätte er viel mehr gesagt, in weit bunteren Worten.
    Ailing stand auf, den Koffer in der Hand, den Mantel mit dem Kaninchenkragen in der anderen. »Wie geht es meinem Mann?«, übersetzte die Dolmetscherin Ailings Frage.
    Der Commissaris sagte: »Er will nicht mit uns reden.«
    Ailing nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Wann kann ich zu ihm?«
    »Das hängt von ihm ab, und davon, was Sie uns erzählen.«
    »Ich sage alles, was Sie hören wollen.«
    »Ich will nur die Wahrheit, mehr nicht«, erwiderte der Commissaris, denn genau das war die Geliebte, die er abzuholen hoffte. Er streckte die Hand aus, um Ailing den Koffer abzunehmen, aber die junge Chinesin kniff abwehrend die Lippen zusammen, als wollte sie sagen: Sie stehlen meinen Mann, aber meinen Koffer bekommen Sie nicht. Also bedankte er sich bei den Kollegen von der Königlichen Gendarmerie und führte Ailing dann durch den Ameisenhaufen der Flugreisenden in der Ankunftshalle zu seinem vor dem Eingang

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