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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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geparkten Alfa.
    »Ich kenne nur eine Seite der Wahrheit«, sagte Zheng Wus Frau, als sie neben ihm in dem zweisitzigen Sportwagen Platz nahm, der einmal Simone gehört hatte. Die Dolmetscherin kauerte hinter ihnen auf dem Notsitz, und ihre Worte, in die Wärme ihres Atems gehüllt, rochen nach Pfefferminz.
    »Bis jetzt haben wir nicht mehr als die Leiche von Cousin Jun Wu«, sagte der Commissaris. »Da ist eine Seite der Wahrheit schon ein beträchtlicher Forschritt. Und je mehr Fortschritte wir machen,desto näher kommen wir dem Tag, an dem Sie Ihren Mann wiedersehen.«
    Ailing schwieg und sah durch die Frontscheibe auf die Straße, die sie in einem großen Bogen vom Ankunftsgebäude des Flughafens zur Autobahn in Richtung Amsterdam führte. Schließlich bemerkte sie: »Ich glaube, es geht ihm sehr schlecht.«
    »Das glaube ich auch«, stimmte der Commissaris zu.
    »Ich habe ihm Briefe geschrieben.«
    »Ich habe sie gelesen.«
    »Sie haben meine Briefe gelesen, an meinen Mann?« Dunkle Röte schoss Ailing in die Wangen. Die junge Chinesin wandte das Gesicht ab und bedeckte es mit einer Hand. Halb und halb erwartete Van Leeuwen, dass auch die Dolmetscherin ihr Gesicht bedecken würde, aber im Rückspiegel sah er, dass sie nur den Kopf zur Seite neigte, als müsste sie Zheng Wus Frau die Worte von den Lippen ablesen.
    »Ich musste es tun«, sagte der Commissaris, »um mir ein Bild zu machen, weil Mijnheer Wu nicht mit uns reden wollte.«
    »Auf diesem Bild, was sehen Sie darauf?«, fragte Ailing nach einer Weile durch die gespreizten Finger. »Sehen Sie eine untreue Frau?«
    »Nein«, bekannte Van Leeuwen, »ich sehe eine einsame Frau, die in Versuchung geführt wurde.«
    »Sie hat der Versuchung nicht nachgegeben.« Ailing ließ die Hand sinken und schaute ihn an, und er spürte den Blick so stark, dass er seine Augen von der Straße löste und sie ebenfalls ansah. »Ich bin meinem Mann treu geblieben, die ganze Zeit«, versicherte sie. »Niemals hätte ich einen so guten Menschen betrügen können. Eher trocknet die Quelle des großen Yangtse aus.«
    Sie griff in die Seitentasche des Mantels, den sie über ihren Schoß gelegt hatte, und holte ein zerknittertes Blatt Papier hervor. Sie faltete es auseinander und fragte: »Wird es Zheng helfen, wenn er spricht?«
    »Ja.«
    »Auch wenn er schreibt?«
    »Solange es die Wahrheit ist.«
    »Mir hat er die Wahrheit geschrieben, weil ich seine Frau bin. Ich lese Ihnen vor, was er geschrieben hat.« Sie senkte den Kopf und hob den Brief, der aussah, als hätte sie ihn immer wieder gelesen, bis sie ihn auswendig wusste. » Ich bin nicht einen Augenblick mehr glücklich gewesen, seit ich das Schiff nach Amsterdam bestiegen habe «, las sie, der Dolmetscherin zugewandt. » Meine Brust ist aus Eisen. Du bist meine Luft, meine geliebte Ailing, mein Blut, mein Verstand, und du fehlst mir so sehr, dass ich wahrscheinlich bald verrückt werde, ja, verrückt. Ich schlafe nicht mehr, ich esse nicht mehr, ich kann den Morgen nicht aushalten, wenn die Sonne aufgeht, und am Abend, wenn sie versinkt, versinke ich mit ihr. Ich weiß, dass es so nicht weitergehen kann, aber der nächste Tag ist wie der vergangene und der übernächste wie alle davor .« Sie hielt inne. »Er hat mir so leidgetan«, sagte sie.
    Der Commissaris fragte: »Mussten Sie ihm denn von seinem Cousin schreiben, von den Nachmittagen in dem Zedernwäldchen und Jun Wus Annäherungsversuchen?«
    »Ja, ich musste«, antwortete sie ohne Zögern. »Ich wollte, dass er mich schnell holt. Oder dass er zurückkommt.«
    »Stattdessen hat er seinen Cousin geholt und noch am Tag seiner Ankunft hier ermordet«, sagte Van Leeuwen.
    Ailing sah aus dem Fenster, an dem jetzt die Außenbezirke der Stadt mit ihren Konferenzhotels, Großtankstellen und Lagerhallen vorbeizogen. Es hörte sich an, als unterdrücke sie ein Schluchzen. Endlich sagte sie: »Ich weiß nicht, was er geschrieben oder am Telefon gesagt hat, aber es muss eine Lüge gewesen sein, denn wenn es die Wahrheit gewesen wäre, hätte Jun sich niemals darauf eingelassen.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Jun hat auch gesagt, er könne ohne mich nicht leben, und er war bei mir, nicht weit weg«, erklärte Ailing. »Er sagte, er liebte mich mehr als Zheng. Er sagte: Lass mich neben dir liegen und deine Nase mit meiner berühren. Mehr brauche ich nicht, um glücklich zu sein. Aber ich war streng zu ihm. Ich habe gesagt: Du weißt doch,dass das nicht geht, Jun. Ich bin mit deinem

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