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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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helfen, sondern sie anderen Händen zu überlassen.«
    »Mit Empfehlung des Komitees?«
    »Ja.«
    »Das Komitee erteilt also auch Mordaufträge?«
    »Diese Frage ist unter Ihrem Niveau, vor allem, nachdem Sie selbst offenbar nicht den Mut haben, eine Position zu beziehen.«
    Aber Van Leeuwen war nicht bereit, sich wieder in die Defensive drängen zu lassen. »Bei dem elfjährigen Tom haben Sie das Komitee nicht befragt, oder? Bei dem psychisch labilen Selbstmörder, dem Sie assistiert haben, statt ihn an einen Psychiater zu überweisen, war Ihnen der Weg zum Komitee zu lästig. Kein think tank und kein zweiter Arzt. Bei wie vielen Patienten haben Sie die Voraussetzungen, unter denen Sterbehilfe bei uns erlaubt ist, noch umgangen?«
    »Ich habe sie umgangen, wenn mein Berufsethos mich dazu verpflichtet hat«, rief Van der Meer erbost, »wenn diese Voraussetzungen in ihrer ganzen Absurdität kenntlich wurden! Und deswegen habe ich mich gefreut, dass ich vor Gericht gestellt worden bin. Ich wollte vor Gericht gestellt werden. Aber ich wollte einen Freispruch, ohne alle Vorbehalte, keine Bewährung aufgrund der Taschenspielertricks meines Anwalts. Entweder ein Freispruch erster Klasse, carte blanche , die juristische Legitimation, weiter zu gehen, viel weiter, als es hier erlaubt ist – oder eine Verurteilung! Ja, ich hätte vor die Richter treten und sagen sollen: Verurteilt mich, denn ich habe sogar eure ach so liberalen Gesetze gebrochen! Schickt mich für zwanzig Jahre ins Gefängnis, nein, auf denelektrischen Stuhl, und zwar wegen Mordes, weil ich meinem Gewissen gehorcht habe!«
    Der Commissaris sah, wie Van der Meers Augen wieder zu flattern begannen – die wahnsinnigen Vögel, bereit, aus den Höhlen zu fliegen. Es ist eine Mimikry, dachte er. Die Aura gütiger Kompetenz und verständnisvoller Aufmerksamkeit überzog den Arzt wie eine Schicht aus undurchsichtigem, wasserabweisendem Wachs, die den Blick in sein Inneres, auf sein wahres Wesen abtropfen ließ. Denn dort, tief drinnen, loderte das Feuer seiner Überzeugung, seiner Besessenheit, die sich mehr und mehr durch die Schale der Güte fraß wie ausgetretene Radioaktivität durch den Mantel aus Stahlbeton, unter dem sie begraben liegen sollte. Dieses Feuer wurde nicht von Güte gespeist.
    Van der Meer verfügte über die gesamte Palette ärztlicher Gesten, das milde Lächeln, die ernste Zurückhaltung, die vertrauenerweckenden Gebärden, das gutmütige Poltern, aber gelegentlich gab es eine elektrische Störung, und das Hologramm flackerte und schien sich zu zersetzen, und aus dem lebensecht wirkenden Arzt trat das hervor, was dem Commissaris die Haare zu Berge stehen ließ. Zusehends wurde er vor Van Leeuwens Augen zu einem Fanatiker, einem Mann, der von seiner Überzeugung gefangen gehalten wurde wie eine ausgehungerte Geisel. Hinter seinem hageren Gesicht, in seinem stählernen Märtyrerkörper saß er das Leben ab, zu dem er sich selbst verdammt hatte, als menschliche Brücke zum Tod.
    Müde fragte der Commissaris: »Wo waren Sie Freitagmorgen zwischen sechs und neun Uhr?«
    »Ich war hier, in der Klinik«, antwortete Van der Meer, nicht im Geringsten verärgert. »Die gesamte Belegschaft, die zu der Zeit Dienst hatte, kann das bestätigen.«
    »Würde Ihre Belegschaft nicht für Sie lügen?«
    »Möglicherweise würde sie das, ja.«
    »Können Sie mir die Namen der Mitglieder des Euthanasie-Komitees, Ihres think tank , geben, oder unterliegen die der Schweigepflicht?«
    »Nein, sie sind auch der Staatsanwaltschaft bekannt, schließlich muss jeder einzelne Fall dort gemeldet werden. Es handelt sich um Doktor Annemieke Sellin, die Leiterin der Krebsstation hier in der Klinik, Doktor Rob Winter vom Poliklinikum in Haarlem und einen psychologischen Sachverständigen.«
    »Ich danke Ihnen für Ihre Geduld«, sagte der Commissaris. »Sie müssen doch nicht etwa in absehbarer Zeit verreisen, ins Ausland, zu einem Kongress oder dergleichen?«
    »Nein, mein Platz ist hier.«
    »Gut.« Van Leeuwen ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. »Was ist Würde?«, fragte er. »Sie sprechen immer von einem Tod in Würde. Was ist das? Wer entscheidet denn, was in so einem Zusammenhang Würde ist?«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er Van der Meers Büro. Er ging durch den leeren, nächtlichen Korridor zum Treppenhaus und dann die Treppe hinunter zum Eingang, und draußen schritt er sehr schnell über die Auffahrt zur Straße. Es war kalt geworden, und ihn

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