Totenfeuer
den Feind im eigenen Haus sitzen hat.
»Warte! Nimm das für sie mit, das mögen sie.« Wanda ist ihrem Vater nachgerannt und reicht ihm eine Tüte, die sie aus dem Küchenschrank genommen hat.
»Was ist das?«
»Marshmallows. Da stehen sie unheimlich drauf. Amadeus mag am liebsten die rosaroten.«
Fassungslos schnappt sich Völxen die Tüte und geht durch den Garten zu seinem Lieblingsplatz. Unterwegs holt er noch Hammer und Nägel aus dem Schuppen.
Fast jeden Abend und manchmal auch schon früh am Morgen, wenn ihn die Kreuzschmerzen nicht mehr schlafen lassen, steht er hier am Zaun der holprigen Weide, betrachtet die vier Schafe und den Bock und hängt seinen Gedanken nach. Auch jetzt ist sein kleines Paradies wieder einmal wunderschön anzusehen. Die Abendsonne versinkt gerade als orangeroter Ball hinter dem Deister, der Apfelbaum wirft lange Schatten, die Schafe schweben wie helle, wattige Wolken über dem frischen Gras, über dem ein Hauch von Nebel liegt. Es riecht nach Erde, Gras und Dung. Aber noch ist keine Zeit für Müßiggang, das letzte Abendlicht will genutzt sein. Völxen öffnet die Pforte, überquert die Weide und untersucht die schadhafte Stelle im Zaun. Er hat bei Schreiner Kolbe neue Bretter und Pfosten bestellt, schon vor drei Wochen, aber sie sind immer noch nicht da. Amadeus, der seinen Namen wegen seines gezwirbelten Gehörns trägt, kommt langsam auf ihn zu. In seiner Haltung spiegelt sich eine Mischung aus Angriffslust, Übermut und Vorsicht. Völxen dreht sich um und hebt drohend die Faust. Der Bock bleibt stehen und scharrt verlegen mit den Vorderhufen. Völxen vermeidet es, Amadeus den Rücken zuzuwenden. Auch während er nun die herunterhängende Zaunlatte wieder annagelt, behält er das Tier im Auge, jederzeit bereit für den rettenden Sprung über den Zaun. Die Hammerschläge sind dem Bock nicht geheuer, er bleibt auf Abstand. Doch kaum ist Völxen fertig, kommt das Tier langsam näher. Der Bock und der Kommissar fixieren einander. Amadeus senkt den Kopf wie ein Kampfstier. Völxen besinnt sich auf seine Geheimwaffe, raschelt mit der Tüte und nimmt eines der weichen Schaumkissen heraus. Die Wirkung ist verblüffend. Augenblicklich ändert sich die Haltung des Bocks, er hebt den Kopf, wittert und kommt dann wie ein Schoßhündchen auf Völxen zugetrabt. Auch Doris, Salomé, Mathilde und Angelina haben etwas bemerkt, und im Nu ist Völxen umringt von friedlich Marshmallows kauenden Paarhufern.
»Davon kriegen sie Karies!«
Auf der anderen Seite des Zauns erscheint Jens Köpcke, in jeder Hand einen Eimer Hühnerfutter. Vorsichtshalber klettert Völxen nun doch über den Zaun. Die Tüte mit den Süßigkeiten stopft er rasch in seine Hosentasche.
»Heute Nacht gibt’s Regen«, verkündet Köpcke und stellt die Eimer hin.
»Sagen dir das deine Hühner oder dein Rheuma?«
»Sven Plöger von der Tagesschau. Gibt es schon was Neues von der Leiche?«
»Nicht viel. Feiertage. Da dauert alles etwas länger.«
Köpcke nickt bedächtig, dann fasst er in die Brusttasche seiner speckigen blauen Latzhose. »Auch ’n Herry ? Hab’s extra für dich aus dem Kühlschrank geholt.«
»Na dann. Her damit.«
Das Licht wird heller, der Applaus verklingt, die letzten Pfiffe verhallen, ein paar Groupies haben sich noch nicht wieder beruhigt, doch die Qual ist vorbei. Fernando dröhnen die Ohren. Oda hat ja keine Ahnung, was ich für sie auf mich nehme, ergeht sich Fernando in Selbstmitleid. Das Publikum ist im Schnitt gut zehn Jahre jünger als er. Fernando stellt fest, dass er sich in letzter Zeit häufiger alt vorkommt. Vielleicht bewege ich mich in den falschen Kreisen, überlegt er. Heute Abend jedenfalls ganz bestimmt, und zu den Fans von Chorprobe wird er sich auch in Zukunft nicht zählen, so viel ist sicher. Drum ’n’ Bass! Er kann sich nicht vorstellen, dass man eine derartige Musik zustande bringt, ohne was genommen zu haben. Wenigstens war die Sängerin ganz niedlich, auch wenn sie kaum mehr als bei drei Nummern ein paar Wortfetzen von sich gegeben hat. Unschlüssig bleibt Fernando im Foyer stehen und beobachtet die Leute, die aus dem Saal kommen. Viele sind hungrig geworden und gehen gleich nach nebenan ins Mezzo, einige stehen noch herum und unterhalten sich. Da! Ist das nicht Veronika? Er hat das Mädchen über ein Jahr nicht gesehen, früher kam sie ab und zu auf die Dienststelle und hat mit ihrer Mutter in der Cafeteria zu Mittag gegessen. Sie geht an ihm vorbei und dann den
Weitere Kostenlose Bücher