Totenfeuer
mehr«, meint Jule.
Und Oda spekuliert: »Vielleicht war er frustriert darüber, dass die Schulmedizin bis heute keinen Sieg über den Krebs erringen konnte, an dem ja seine Frau starb. Vielleicht trieb ihn diese Hilflosigkeit dazu, sich von den Pfaden der Vernunft auf die des Okkulten zu begeben.«
»Das hast du jetzt sehr schön ausgedrückt«, lobt Völxen.
»Außerdem scheint es sich zu lohnen«, bemerkt Jule nüchtern und fährt fort: »Aber die Grenze zwischen Medizin und Esoterik ist ohnehin fließend. Man muss sich nur mal die IGeL-Listen der Praxen ansehen, da wird auch so manche grenzwertige Tortur verhökert, und damit verdienen sich inzwischen viele scheinbar seriöse Ärzte ein fettes Zubrot.«
»Was ist denn eine Igel-Liste?«, will Fernando wissen.
» Individuelle Gesundheitsleistungen , also Sachen, die die Krankenkasse nicht bezahlt. Irgendwelche überflüssigen, aber angeblich ganz wichtigen Untersuchungen zum Beispiel, oder die beliebten ›Aufbauspritzen‹ für betuchte ältere Damen. Die meisten dieser Angebote sind weit eher ökonomisch als medizinisch indiziert. Das behauptet zumindest mein Vater.«
»Das stimmt«, bestätigt Völxen. »Mein Orthopäde wollte mir neulich eine pulsierende Magnetfeldtherapie gegen meine Rückenbeschwerden aufschwatzen. Für 200 Euro!«
»Und? Haben Sie es ausprobiert?«, erkundigt sich Jule neugierig.
»Natürlich nicht.«
»Ein Schaffell hilft bei Rückenschmerzen auch viel besser«, weiß Oda.
»Aber das Schaf muss bei Vollmond geschlachtet worden sein«, ergänzt Fernando.
Völxen winkt entnervt ab, in dem Moment schrillt Odas altes Tischtelefon los, und alle vier fahren zusammen.
»Kann man das Monstrum nicht endlich mal leiser stellen?«, mault Völxen.
»Polizeidirektion Hannover …«
»Bächle hier. Frau Krischtensen, i hob ebbes für Sie.«
»Ich höre.«
»Schrotkörner.«
»Schrotkörner?«
»Jawohl. Fünferpatrone, drei Millimeter Körnung. Der klassische Hasenschrot. In großer Dichte im verbrannten Gewebe des Bruschtbereichs und im Bruschtbein und in den Rippen. Der Schütze war koine drei Meter von seinem Ziel entfernt und hat ihn frontal erwischt.«
»Was meint ihr, schaffen sie den Klassenerhalt?«, fragt Fernando.
Die drei Jungs, die brav aufgereiht neben Fernandos Schreibtisch sitzen und einen guten Blick auf die großflächige Hannover-96-Fahne haben, die hinter ihm an der Wand hängt, äußern sich skeptisch: »Nur wenn sie am Samstag Schalke schlagen.«
»Das wird schwierig.«
»Glaub ich auch.«
Ole Lammers und Torsten Gutensohn sehen deutlich erholter und ausgeschlafener aus als am Sonntagabend. Carsten Meier ist ein schmächtiger, pickliger Junge mit einem blond gefärbten Hahnenkamm. Auf der anderen Seite der beiden zusammengeschobenen Schreibtische liest Jule Wedekin scheinbar unbeteiligt in einer Akte. Fernando nimmt die Personalien auf. Ole und Torsten sind beide siebzehn und besuchen den gymnasialen Zweig der Gesamtschule in Empelde. Carsten Maier macht eine Lehre als Landmaschinenmechaniker.
»Ihr drei habt also die letzte Nachtwache an der Feuerstelle geschoben, und zwar von drei Uhr bis ungefähr kurz vor sieben«, hält Fernando noch einmal fest. »Stimmt das so?«
Alle drei bejahen die Frage.
»Und ihr wart alle drei wach, die ganze Zeit?«
»Ja«, antwortet Torsten.
»Du auch, Ole?«
Der Angesprochene sieht Fernando ein wenig erschrocken an, dann versichert er eilig: »Ja.«
»Carsten? Was ist mit dir?«
»Ja.«
»Was – ja?«
»Ja, ich habe auch mit aufgepasst.«
»Was habt ihr gemacht in der ganzen Zeit?«
»Auf dem Stroh gesessen, gequatscht, bisschen getrunken«, antwortet Ole.
»Wir haben ein Stück weiter weg von dem großen Haufen ein kleines Lagerfeuer gemacht«, erzählt Torsten.
»Das war doch sicher recht langweilig, als die anderen weg waren, oder?«
Die drei sehen sich an, zucken mit den Schultern. »Ging so«, murmelt Carsten.
»Habt ihr was gehört? War irgendwas?«, erkundigt sich Fernando.
»Nö«, meint Torsten.
»Nein«, sagt Ole.
Und Carsten fragt: »Was sollen wir denn gehört haben?«
»Eines ist jetzt aber seltsam«, mischt sich Jule mit sanfter Stimme ein, woraufhin sich ihr alle drei Köpfe ruckartig zuwenden. »Ein Mann mit einem schwarzen Hund, der noch vor Sonnenaufgang dort oben spazieren gegangen ist, hat nämlich gesagt, er hätte euch dort liegen sehen, tief und fest schlafend.«
Betretenes Schweigen folgt diesen Worten. Jule kann riechen, wie den
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