Totenfluss: Thriller (German Edition)
das sich bereits auf der North Portland Road gesammelt hatte. Ein Auto kam die Victoria Avenue entlang. Ein Paar spazierte gemeinsam durch einen Park.
»Warum brauchen sie so lange?«, fragte Floyd.
Es war eine verdammt gute Frage.
Williams legte das Fernglas beiseite und griff zu dem Telefon auf seinem Schreibtisch, seine Handflächen waren glitschig vor Schweiß. Aber er machte selbst keine Anrufe. Das erledigte seine Sekretärin für ihn. Er sah sie hilflos an, und sie kam um den Schreibtisch herum, nahm den Hörer und wählte, dann gab sie ihm den Hörer.
»Hallo?«, meldete sich eine Männerstimme.
»Alarmieren Sie um Himmels willen diese Leute«, brüllte Williams in das Telefon.
Wenige Minuten darauf setzten die Sirenen endlich ein.
Williams schaute auf seine Armbanduhr. Es war 16.47 Uhr.
Der gesamte Bahndamm hatte inzwischen nachgegeben, und der See ergoss sich ungehindert über ihn. Die von der Wucht des Wassers verbogenen Eisenbahnschienen schienen in der Luft zu hängen, da die Erde unter ihnen fortgeschwemmt war.
Die Sekretärin begann lautlos zu weinen. Williams hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber er wusste nicht, was. Floyd hustete. Niemand sprach. Die drei standen wortlos am Fenster, während das Wasser weiter anschwoll. Das Fernglas lag auf dem Fensterbrett. Williams wollte nichts sehen.
1
Gegenwart
Theoretisch war der Park geschlossen.
Aber Laura kannte eine Stelle, wo der Drahtzaun einen Riss hatte, und dort hatte sie ihre Australian Shepherds durchgelassen und war selbst hinterhergestiegen. Der Park sah aus wie ein kleiner See. Es gab tatsächlich keinen schlammigeren Ort im Winter in Portland, Oregon, als den West Delta Dog Park, und das wollte etwas heißen.
Die Hunde liefen vor ihr in das stehende Wasser, spritzten es hinter sich auf und waren schon jetzt ganz verfilzt von Morast und totem Gras. Gelegentlich wandten sie den Kopf zu ihr um, und ihr Atem kondensierte in der warmen Januarluft.
Laura wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Es war ein schrecklicher Tag für einen Aufenthalt im Freien. Ihre Regenhose glänzte vor Nässe, ihre Laufschuhe waren durchgeweicht. Sie hatte den frühen Morgen damit verbracht, in der City Sandsäcke aufzufüllen, bis ihr Rücken schmerzte. Der Ermüdungsbruch in ihrem Fuß tat weh. Gönnen Sie sich sechs Wochen Pause, hatten die Ärzte gesagt. Von wegen.
Die Wolkendecke hing so tief, dass die Baumwipfel sie zu streifen schienen.
Sie liebte es.
Das übelste Wetter, ein schmerzender Körper – nichts hielt sie im Haus. Radfahren, Laufen, mit den Hunden rausgehen, sie war jeden Tag draußen, komme, was wolle. Nicht wie all diese Poser, die im Sommer in ihren schicken Lauf-Shirts und mit ihren iPods die Esplanade entlangjoggten. Wo waren sie mitten im Winter? Im Fitnessklub, dort waren sie.
Gott, wie Laura diese Leute hasste.
Franklin sah zu ihr zurück, wedelte mit seinem Stummelschwanz, bellte einmal und legte die Ohren an, dann sauste er über die alte Straße davon in Richtung Altwasser. Es war ihre übliche Route. Penny, der Welpe, hielt sich dichter an Laura, er rannte immer ein paar Meter vor und kam dann in einem Bogen wieder zurück.
Dann hörte es Laura. Sie hatte es die ganze Zeit gehört, aber es war zu einem Hintergrundgeräusch geworden, einem Umgebungsgeräusch wie ein Düsenflugzeug, das über sie hinwegflog.
Die Altwasser des Columbia.
Sie wusste, das Wasser würde hoch sein. Sie hatten im Dezember massenhaft Schnee gehabt. Dann war es wärmer geworden und hatte zu regnen begonnen. Das bedeutete Schneeschmelze von den Bergen. Eine Menge davon. Die Flutkanäle waren voll, der Willamette drohte die Stadt zu überschwemmen. Die Lokalnachrichten kannten Tag und Nacht kein anderes Thema, man erwog, die Innenstadt zu evakuieren. Aber das war der Willamette, und der war meilenweit entfernt.
Als Laura an den Bäumen vorbei um die Kurve bog, wo sich der alte Betonpavillon in die Uferböschung des Sumpfs schmiegte, blieb ihr der Mund offen.
Im Sommer war das Altwasser ruhig und flach und so dicht von Algen bedeckt, dass es fest genug aussah, um darauf gehen zu können. Jenes Altwasser stand so reglos, dass sich Laura wunderte, wie etwas darin überleben konnte. Es sah aus wie ein Eimer Wasser, den man den ganzen Sommer über auf der hinteren Veranda stehen lassen hatte.
Dieses Altwasser hier lebte. Es bewegte sich, als wäre es wütend und verängstigt, es schäumte hoch und schnell. Gischt schlug ans Ufer,
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