Totengeld
Tisch, an dem Rockett und Story saßen. Und dort stand ein Mann, die Arme erhoben, die Ellbogen angewinkelt, das Gesicht größtenteils verdeckt von einer kleinen Boxkamera und dem Gleißen des Blitzlichts.
Der Körper des Mannes war vom Hals abwärts zu sehen. Er trug Jeans und ein dunkles T-Shirt. Und er hatte ein Tattoo, das ich schon einmal gesehen hatte.
Ich spürte, wie mir Adrenalin ins Blut sickerte.
Und alle meine Theorien rutschten zur Seite.
39
Unmöglich.
Doch er war es.
Zufall?
Ich glaube nicht an Zufälle.
Aber wie stellte er es an?
Egal.
Ich holte eine braune Mappe aus Wellpappe aus dem Arbeitszimmer, leerte den Inhalt auf den Esszimmertisch und ging jede Seite einzeln durch.
Es dauerte nicht lange.
Wie hatte ich das übersehen können?
Weil mir diese Möglichkeit überhaupt nicht bewusst war?
Weil ich nachlässig gewesen war?
Eine plötzliche Erkenntnis. Noch eine übersehene Möglichkeit?
Ich ging ins Wohnzimmer, zog Candys Foto von der Tafel und schaute es mir noch einmal unter der Lupe an.
Die dunkle Haut. Die blonden Haare mit den dunklen Wurzeln.
Rosalie D’Ostillo hatte die Mädchen auf Spanisch angesprochen, aber keine Antwort erhalten. Weil sie Angst hatten vor ihrem Bewacher? Oder aus einem anderen Grund?
Ich lief nach oben und holte ein Foto von der Schlafzimmerkommode. Setzte mich aufs Bett. Legte das Kommodenfoto neben das Leichenhallenfoto von Candy. Während ich mich bemühte, die Lupe in meiner Hand ruhig zu halten, schaute ich von einem Gesicht zum anderen.
O Mann.
Ich drehte das Kommodenfoto um. Las die handgeschriebene Liste auf der Rückseite.
O Mann, o Mann.
Ich griff zum Telefon und wählte.
Erreichte nur Slidells Mailbox.
»Himmelherrgott!«
Mein Blick flog zum Wecker. 22:40. Slidell war wahrscheinlich in dem Massagesalon in NoDa.
Ich hinterließ eine Nachricht. Rufen Sie mich so schnell wie möglich an. Es ist dringend.
Ich legte auf. Warf das Gerät aufs Bett. Stand auf und ging hin und her.
Jeder hat ein Handy bei sich. Warum ließ Slidell seins nicht eingeschaltet?
22:45.
Mach schon. Mach schon.
Wieder ging ich auf und ab.
Beschäftige dich.
Ich lief hastig die Treppe hinunter und kochte mir frischen Kaffee, obwohl ich wusste, dass Koffein das Letzte war, was ich jetzt brauchte. Um meinem Hirn was zu tun zu geben, kehrte ich zu den Papieren auf dem Esszimmertisch zurück.
Prüfte noch einmal alles nach.
Dachte über die Implikationen nach.
Natürlich. So musste es sein.
23:05.
Wo zum Teufel steckte Slidell?
Ich lief ins Arbeitszimmer. Drückte eine Kurzwahltaste auf dem Schnurlosen.
»Ja.« Pete klang groggy.
»Tempe hier.«
»Ja.« Pete gähnte. »Ich weiß.«
»Du musst mir einen Gefallen tun.«
Im Hintergrund sprach eine Frau, die Stimme ebenfalls schläfrig.
»Bist aber noch spät auf. Feierst du eine Party?«
»Klingt es, als wär hier eine Party im Gange?«, blaffte ich.
»Oje. Schlechten Tag gehabt?«
»Ich habe eine Frage für dich.«
»Schieß los.«
Ich fragte.
»Maria … nein, Marianna. Mariette? Nein, eindeutig Marianna.«
»Wie hieß sie mit Mädchennamen?«
»Ist es so wichtig, dass du es sofort wissen musst?«
»Ja.«
»Einen Augenblick.«
Ich hörte Bettzeug rascheln. Einen quengelnden Protest von Summer. Dann änderten sich die Umgebungsgeräusche, als wäre Pete in ein anderes Zimmer gegangen.
Augenblicke später hatte ich meine Antwort.
»Danke, Pete. Ich muss …«
»Alles okay mit dir? Du klingst merkwürdig.«
»Mir geht’s gut. Ich muss jetzt auflegen. Danke.«
23:10.
Ich legte auf und rief Slidell noch einmal an. Hinterließ dieselbe Nachricht.
Es ergab alles einen Sinn. Einen schrecklichen, unwahrscheinlichen Sinn.
Ich kehrte zur Tafel auf dem Kaminsims zurück. Starrte das Foto aus John-Henry’s Tavern an. Den vom Kamerablitz verdeckten Mann.
»Du widerlicher Scheißkerl«, murmelte ich.
Doch was jetzt? Es ging schon auf Mitternacht zu.
Andere Mädchen waren in Gefahr. Das sagte mir mein Bauch. Wenn sie nicht schon tot waren. Wie Candy.
Nein. Sie waren noch in Charlotte. Da war ich mir sicher.
Eine Million Orte, um Mädchen gefangen zu halten.
Zwei Millionen, um ihre Leichen zu vergraben.
Slidell hatte mit Rockett, mit Tarzec gesprochen. Diese Tiere wussten, dass die Schlinge sich zuzog. Und hatten absolut keinen Respekt vor dem menschlichen Leben.
Falls die Mädchen noch lebten, würden sie den nächsten Tag erleben?
Wo zum Teufel steckte Slidell?
Wo zum Teufel
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