Totengleich
kräftig bei der Renovierung mitgeholfen – den halben Abend hatten wir die schimmelige Tapete im Wohnzimmer abgerissen –, und es wuchs mir immer mehr ans Herz. Die Vorstellung, es könnte Ziel eines derart konzentrierten Hasses sein, ließ etwas Heißes in meinem Bauch auflodern.
»Da, wo ich aufgewachsen bin, lebt eine Familie«, sagte Sam. »Die Purcells. Ihr Urgroßvater oder so war damals Mieteintreiber. Einer von der ganz miesen Sorte – hat an Familien Geld verliehen, die die Miete nicht aufbringen konnten, dann von den Ehefrauen und Töchtern Zinsen in Naturalien verlangt und schließlich alle zusammen auf die Straße gesetzt, sobald er das Interesse verlor. Kevin Purcell ist zusammen mit uns aufgewachsen, hatte nie Ärger, war niemandem ein Dorn im Auge. Aber als wir alle etwas älter waren und er mit einem Mädchen aus der Gegend ausging, lauerten ein paar Jungs ihm auf und vermöbelten ihn nach Strich und Faden. Die waren nicht verrückt, Cassie. Sie hatten gar nichts gegen Kevin. Er war ein netter Kerl, hat dem Mädchen nie irgendwas getan. Bloß … manche Sachen sind nicht in Ordnung, egal, wie lange sie her sind. Manche Sachen werden nie vergessen.«
Die Blätter der Hecke piksten und drückten gegen meinen Rücken, als würde sich darin irgendetwas bewegen, aber als ich herumfuhr, war alles reglos wie ein Bild. »Das ist was anderes, Sam. Dieser Kevin hat den ersten Schritt gemacht: Er ist mit dem Mädchen ausgegangen. Die fünf haben aber nichts gemacht. Die wohnen einfach nur in dem Haus.«
Wieder eine Pause. »Und das kann schon ausreichen, je nachdem. Ich mein ja bloß.«
In seiner Stimme lag ein verwirrter Unterton. »In Ordnung«, sagte ich ruhiger. »Du hast recht, eine Überprüfung kann nicht schaden – wir haben ja gesagt, der Täter ist wahrscheinlich aus der Gegend. Tut mir leid, dass ich so pampig war.«
»Ich wünschte, du wärst hier«, sagte Sam übergangslos, leise. »Am Telefon bringt man schnell was durcheinander. Kriegt Sachen in den falschen Hals.«
»Ich weiß, Sam«, sagte ich. »Ich vermisse dich auch.« Es stimmte. Ich wehrte mich dagegen – so etwas lenkt nur ab, und Ablenkung ist schlecht, kann den Fall ruinieren oder dich sogar das Leben kosten –, aber wenn ich allein und müde war, nach einem langen Tag im Bett lag und versuchte, noch etwas zu lesen, wurde es schwierig. »Nur noch ein paar Wochen.«
Sam seufzte. »Weniger, wenn ich irgendwas finde. Ich rede mit Doherty und Byrne, mal sehen, was die mir sagen können. In der Zwischenzeit … pass bloß gut auf dich auf, ja? Nur für alle Fälle.«
»Mach ich«, sagte ich. »Du kannst mich morgen auf den neusten Stand bringen. Schlaf schön.«
»Du auch. Ich liebe dich.«
Das Gefühl, beobachtet zu werden, zwickte mich noch immer im Nacken, diesmal stärker, näher. Vielleicht ging mir nur das Gespräch mit Sam noch nach, aber auf einmal wollte ich auf Nummer sicher gehen. Diese elektrischen Schwingungen von irgendwoher in der Dunkelheit, Sams Geschichten, Rafes Vater, all die Dinge, die von allen Seiten auf uns eindrangen, nach Schwachstellen suchten, auf den richtigen Moment zum Angriff warteten: Eine Sekunde lang vergaß ich, dass ich selbst zu den Eindringlingen gehörte, wollte einfach nur brüllen: Lasst uns in Ruhe . Ich wickelte den Strumpf vom Mikro und steckte ihn zusammen mit dem Handy in den Hüfthalter. Dann knipste ich die Taschenlampe an, um möglichst viel sehen zu können, und spazierte mit munteren flotten Schritten los, Richtung Whitethorn House.
Ich kenne etliche Tricks, um einen Verfolger abzuschütteln, ihn zu enttarnen oder den Spieß umzudrehen. Die meisten sind nur für die Stadt gedacht, nicht für die freie Natur, aber sie lassen sich anpassen. Ich hielt die Augen geradeaus und erhöhte das Tempo, bis niemand mehr in der Lage wäre, mir auf den Fersen zu bleiben, ohne seine Deckung aufzugeben oder einen ziemlichen Krach im Unterholz zu machen. Dann bog ich jäh in einen Querweg, knipste die Taschenlampe aus, rannte fünfzehn oder zwanzig Schritte und zwängte mich, so leise ich konnte, durch eine Hecke auf ein verwildertes Feld. Ich verharrte reglos, tief gegen die Büsche geduckt, und wartete.
Zwanzig Minuten lang nichts, nicht einmal ein knirschender Kieselstein, kein raschelndes Blatt. Wenn mich tatsächlich jemand verfolgte, dann war er gerissen und geduldig: kein schöner Gedanke. Schließlich kroch ich wieder zurück durch die Hecke. Auf dem Weg war in beiden Richtungen,
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