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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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aufragende Masse des Kleiderschranks, die gedrungene Silhouette der Frisierkommode, das kaum merkliche Flackern im Spiegel, wenn ich mich bewegte.
    Ich hatte mir redlich Mühe gegeben, nicht an das Baby zu denken, Lexies Baby. Vier Wochen, hatte Cooper gesagt, nicht mal einen Zentimeter groß: ein winziger Edelstein, ein einzelner Farbfunke, der dir durch die Finger rutscht und durch die Ritzen und weg. Ein Herz von der Größe eines Glitterflöckchens, das schwirrt wie ein Kolibri, unzählige Dinge verheißend, die jetzt niemals geschehen würden.
    Und dann neulich musstest du dich übergeben … Ein eigensinniges Baby, das hellwach war und nicht ignoriert werden wollte, bereits winzige Finger ausstreckte, um an ihr zu ziehen. Aus irgendeinem Grund stellte ich mir kein sanftes Neugeborenes vor, sondern ein Kleinkind, kompakt und nackt, mit einem dunklen Lockenkopf, gesichtslos, das an einem Sommertag auf dem Rasen vor mir davonlief, ein gellendes Lachen hinter sich herzog. Vielleicht hatte sie noch vor wenigen Wochen in diesem Bett gesessen und sich das Gleiche ausgemalt.
    Vielleicht aber auch nicht. Ich hatte allmählich den Eindruck, dass Lexie sturer gewesen war als ich und einen obsidianharten Willen gehabt hatte, für Widerstand ausgelegt, nicht für Kampf. Wenn sie sich das Baby nicht hatte vorstellen wollen, dann war dieser winzige schillernde Komet auch nicht für eine Sekunde vor ihrem geistigen Auge aufgeblitzt.
    Ich wollte furchtbar gern wissen, mit einer Intensität, als läge darin der Schlüssel, der die ganze Geschichte aufschließen würde, ob sie es hatte behalten wollen. Unser Abtreibungsverbot ändert nichts daran, dass Jahr für Jahr eine lange, schweigende Prozession von Frauen mit der Fähre oder dem Flugzeug nach England reist und wieder zu Hause ist, ehe irgendjemand merkt, dass sie fort waren. Niemand auf der Welt konnte mir sagen, was Lexie vorgehabt hatte. Wahrscheinlich war sie sich selbst nicht mal sicher gewesen. Fast wäre ich aufgestanden und nach unten geschlichen, um mir ihren Terminkalender noch einmal anzusehen, nur für den Fall, dass ich irgendetwas übersehen hatte – einen winzigen Punkt, versteckt in einer Ecke im Dezember, am errechneten Geburtstermin –, aber das wäre unvorsichtig gewesen, und außerdem wusste ich bereits, dass da nichts zu finden war. Ich saß sehr lange im Dunkeln im Bett, die Arme um die Knie, lauschte dem Regen und spürte an der Stelle, wo die Stichwunde hätte sein müssen, den Druck der Akkus, die sich in mich hineingruben.

    Da war dieser eine Abend, am Sonntag, glaube ich. Die Jungs hatten im Wohnzimmer die Möbel beiseitegeschoben und rückten dem Fußboden mit Schleifgerät und Poliermaschinen und einem gewissen Maß an Machismo zu Leibe, daher hatten Abby und ich uns nach oben verdünnisiert, um in dem Gästezimmer neben meinem die letzten Reste von Onkel Simons Schätzen zu sichten. Ich saß auf dem Fußboden, halb begraben unter alten Stoffresten, und sortierte alles aus, was nicht hauptsächlich aus Mottenlöchern bestand. Abby ging einen Riesenberg potthässlicher Vorhänge durch und murmelte vor sich hin: »Müll, Müll, Müll – die könnte man nochmal waschen –, Müll, Müll, Müll, ach du Schande, Müll, wer hat diesen Plunder bloß gekauft?« Das Schleifgerät machte unten einen Höllenlärm, und im Haus herrschte eine geschäftige und doch entspannte Stimmung, die mich an das Morddezernat an einem ruhigen Tag erinnerte.
    »Hoppla«, sagte Abby plötzlich und hockte sich auf die Fersen. »Sieh dir das mal an.«
    Sie hielt ein Kleid hoch: taubenblau mit weißen Punkten und weißem Kragen und weißer Schärpe. Kleine Flügelärmel und ein Tellerrock, der hochfliegen musste, wenn man sich drehte, Lindy Hop in Reinkultur. »Wow«, sagte ich, befreite mich aus dem Stoffwust und ging hin, um mir das Kleid genauer anzusehen. »Meinst du, es hat Onkel Simon gehört?«
    »Ich glaub nicht, dass er die Figur dafür hatte, aber wir sehen mal im Fotoalbum nach.« Abby hielt das Kleid auf Armeslänge und begutachtete es. »Willst du es mal anprobieren? Ich glaub nicht, dass Motten drin sind.«
    »Zieh du es an. Du hast es gefunden.«
    »Das passt mir nie im Leben. Sieh mal –« Abby stand auf und hielt sich das Kleid vor den Körper. »Das ist zu groß für mich. Die Taille hängt mir ja um den Hintern.«
    Abby war höchstens eins sechzig, aber das vergaß ich andauernd. Es fiel schwer, sie als klein wahrzunehmen. »Aber für mich ist es viel

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