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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Schulter an Schulter über diesen Flur gegangen waren, wie wir in der vergifteten Luft des Knocknaree-Falls in Stücke zerborsten waren wie ein Meteor, in Rauch und Flammen aufgegangen, und ich empfand absolut nichts, nichts, außer dass sich die Wände um mich herum öffneten und abfielen wie Blütenblätter. Sams Augen waren riesig und dunkel, als hätte ich ihn geohrfeigt, und Frank betrachtete mich mit einem Blick, der mir, wenn ich auch nur halbwegs bei Verstand gewesen wäre, eigentlich hätte Angst einjagen müssen, aber ich spürte nur, wie sich jeder Muskel in mir lockerte, als wäre ich acht Jahre alt und würde an irgendeinem grünen Hang Rad schlagen, bis mir schwindelig wird, als könnte ich tausend Meilen weit durch kühles blaues Wasser tauchen, ohne einmal Luft holen zu müssen. Ich hatte recht gehabt: Freiheit roch nach Ozon und nach Gewittern und Schießpulver, alles zugleich, nach Schnee und Lagerfeuern und frisch gemähtem Gras, sie schmeckte nach Meerwasser und Orangen.

16
    Es war schon fast zu spät zum Mittagessen, als ich ins Trinity zurückkam, aber die anderen saßen noch immer in der Bibliothek. Sobald ich in den langen Gang zwischen den Bücherregalen einbog, der zu unserer Ecke führte, blickten sie auf, schnell und fast gleichzeitig, und legten die Stifte weg.
    »Gott sei Dank«, sagte Justin mit einem langen Seufzer der Erleichterung, als ich bei ihnen war. »Da bist du ja. Wurde auch Zeit.«
    »Menschenskind«, sagte Rafe. »Wieso hat das denn so lang gedauert? Justin dachte schon, du wärst verhaftet worden, aber ich hab gesagt, du bist wahrscheinlich bloß mit diesem O’Neill abgehauen.«
    Rafes Haare standen zu Berge, und Abby hatte einen Tintenfleck an der Wange, und sie hatten keine Ahnung, wie wunderschön sie für mich aussahen, wie nah wir davor gewesen waren, uns gegenseitig zu verlieren. Ich wollte sie alle vier berühren, wollte sie umarmen, ihre Hände fassen und mit aller Macht festhalten. »Die haben mich ewig warten lassen«, sagte ich. »Gehen wir essen? Ich komm um vor Hunger.«
    »Wie ist es gelaufen?«, fragte Daniel. »Hast du den Mann identifiziert?«
    »Nein«, sagte ich und beugte mich über Abby, um meine Tasche zu nehmen. »Aber es ist eindeutig der Typ von neulich Nacht. Ihr hättet sein Gesicht sehen sollen. Der sieht aus, als hätte er zehn Runden gegen Muhammad Ali geboxt.« Rafe lachte und hob eine Hand, damit ich mit ihm abklatschen konnte.
    »Was gibt’s da zu lachen?«, wollte Abby wissen. »Der Kerl könnte euch wegen Körperverletzung anzeigen, wenn er wollte. Justin hatte das schon befürchtet, Lex.«
    »Er will keine Anzeige erstatten. Er hat den Bullen erzählt, er wär mit dem Fahrrad gestürzt. Alles bestens.«
    »Und deine Erinnerung, ist dir irgendwas eingefallen?«, erkundigte sich Daniel.
    »Nix.« Ich zog Justins Mantel von seinem Stuhl und schwenkte ihn. »Nun kommt schon. Können wir heute mal in die Mensa gehen? Ich brauch was Ordentliches zu essen. So ein Besuch bei den Bullen macht hungrig.«
    »Hast du irgendeine Ahnung, wie es jetzt weitergeht? Meinen die, er ist der Mann, der dich überfallen hat? Haben sie ihn verhaftet?«
    »Nein«, sagte ich. »Nicht genug Beweise oder so. Und sie glauben nicht, dass er mich niedergestochen hat.«
    Ich war ganz von dem Gedanken erfüllt gewesen, dass das eine gute Neuigkeit war, und hatte dabei vergessen, dass es sich aus den meisten anderen Perspektiven völlig anders darstellen könnte. Schlagartig trat eine schale Stille ein, jeder mied den Blick der anderen. Rafes Augen schlossen sich für eine Sekunde, wie im Schmerz.
    »Warum nicht?«, fragte Daniel. »Für mich sieht er wie ein logischer Verdächtiger aus.«
    Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, was die sich so denken. Mehr haben sie mir jedenfalls nicht gesagt.«
    »Scheiße«, sagte Abby. In dem Neonlicht sah sie plötzlich blass und müde aus.
    »Tja, dann«, sagte Rafe, »war die ganze Übung ja wohl sinnlos. Und das Ganze geht wieder von vorne los.«
    »Das wissen wir noch nicht«, sagte Daniel.
    »Ich finde, das liegt auf der Hand. Auch wenn es pessimistisch klingt.«
    »Oh Gott«, sagte Justin leise. »Ich hatte so gehofft, die Sache wäre endlich vorbei.« Niemand antwortete ihm.

    Wieder unterhielten sich Daniel und Abby spätabends auf der Terrasse. Diesmal musste ich mich nicht an der Küchenwand entlangtasten. Ich hätte mich mit verbundenen Augen durchs Haus bewegen können, ohne einmal irgendwo gegenzustoßen, ohne auf

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