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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Der Vater meiner Mutter war Franzose, und irgendwie hat die Kombination aus Französisch und Irisch etwas Spezielles und ziemlich Markantes hervorgebracht. Ich habe keine Geschwister; was ich vor allem habe, sind Tanten, Onkel und eine große, fröhliche Schar Cousins und Cousinen, und von denen hat niemand auch nur die geringste Ähnlichkeit mit mir.
    Meine Eltern starben, als ich fünf war. Meine Mutter war Varietésängerin, er war Journalist, er fuhr sie in einer nassen Dezembernacht nach Hause, und sie kamen auf einem Stück rutschiger Fahrbahn von der Straße ab. Ihr Auto überschlug sich dreimal – er war vermutlich viel zu schnell gefahren – und blieb mit dem Dach nach unten auf einem Feld liegen, bis ein Farmer die Scheinwerfer bemerkte und nachsehen ging. Mein Vater starb am Tag darauf, meine Mutter noch im Rettungswagen. Ich erzähle die Sache möglichst früh, wenn ich neue Leute kennenlerne, um sie aus dem Weg zu haben. Alle, die es erfahren, kriegen entweder kein Wort mehr raus oder werden unerträglich sentimental (»Sie fehlen dir bestimmt ganz schrecklich «), und je besser wir uns kennen, desto länger muss das sentimentale Stadium ihrer Meinung nach dauern. Ich weiß nie, was ich darauf antworten soll, zumal ich damals erst fünf war und es über fünfundzwanzig Jahre her ist. Ich glaube, ich darf von mir behaupten, mehr oder weniger darüber hinweg zu sein. Ich wünschte, ich könnte mich noch gut genug an sie erinnern, um sie zu vermissen, aber im Grunde kann ich nur die Vorstellung vermissen, und manchmal auch noch die Lieder, die meine Mutter mir vorgesungen hat, und davon erzähle ich anderen nichts.
    Ich hatte Glück. Tausende andere Kinder in so einer Situation fallen durch das soziale Netz, landen in Pflegefamilien oder in horrormäßigen Heimen. Aber auf dem Weg zu dem Auftritt meiner Mutter hatten meine Eltern mich nach Wicklow zur Schwester meines Vaters und ihrem Mann gebracht, wo ich übernachten sollte. Ich erinnere mich noch an Telefonklingeln mitten in der Nacht, schnelle Schritte auf der Treppe und beschwörendes Tuscheln in der Diele, ein Auto, das losfuhr, an das Kommen und Gehen von Leuten in den Tagen danach, und dann nahm Tante Louisa mich mit ins dämmrige Wohnzimmer und erklärte mir, dass ich noch eine Weile länger bei ihnen bleiben würde, weil meine Eltern nicht wiederkommen würden.
    Sie war deutlich älter als mein Vater, und sie und Onkel Gerard haben keine Kinder. Er ist Historiker. Sie spielen gern Bridge. Ich glaube, sie konnten sich nie so richtig daran gewöhnen, dass ich fortan bei ihnen lebte – sie gaben mir das Gästezimmer mit Doppelbett und kleinen zerbrechlichen Nippsachen und einem wenig kindgerechten Kunstdruck der Geburt der Venus und blickten leicht besorgt, als ich in das Alter kam, wo ich eigene Poster aufhängen wollte. Aber zwölfeinhalb Jahre lang ernährten sie mich, schickten mich zur Schule und in Gymnastikkurse und zum Musikunterricht, tätschelten mir jedes Mal, wenn ich in Reichweite kam, vage, aber liebevoll den Kopf und ließen mich in Ruhe. Im Gegenzug achtete ich darauf, dass sie es nicht erfuhren, wenn ich die Schule schwänzte, von irgendwas runterfiel, wo ich gar nicht hätte draufklettern sollen, nachsitzen musste oder mit dem Rauchen anfing.
    Ich hatte – das scheint dann alle noch mal zu schockieren – eine glückliche Kindheit. In den ersten paar Monaten verkroch ich mich, sooft es ging, hinten im Garten, heulte, bis ich brechen musste, und beschimpfte die Kinder aus der Nachbarschaft, wenn sie sich mit mir anfreunden wollten. Aber Kinder sind pragmatisch, sie überstehen gesund und munter noch erheblich schlimmere Sachen als das Schicksal, Waisenkind zu werden, und auch ich konnte nur eine begrenzte Zeit Widerstand gegen die Einsicht leisten, dass nichts meine Eltern zurückbringen würde, und gegen die zahllosen lebendigen Dinge um mich herum, wie Emma von nebenan, die sich über die Mauer hängte, und mein neues Fahrrad, das rot in der Sonne funkelte, und die halbwilden Kätzchen im Gartenschuppen, die unaufhörlich in Bewegung waren, während sie darauf warteten, dass ich wach wurde und rauskam, um mit ihnen zu spielen. Ich kam früh dahinter, dass du dein Leben wegwerfen kannst, wenn du immer nur Verlorenem nachtrauerst.
    Ich entwöhnte mich mittels einer Sehnsucht, die wie Methadon wirkte (macht nicht so abhängig, ist nicht so offensichtlich, und man wird nicht so leicht verrückt davon): Ich vermisste das, was ich

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