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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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nie gehabt hatte. Wenn meine neuen Freundinnen und ich am Kiosk Schokoriegel kauften, verwahrte ich immer die Hälfte von meinem für meine imaginäre Schwester (ich versteckte sie unten in meinem Schrank, wo sie sich in klebrige Pfützen verwandelten und in meine Schuhe tropften). Ich ließ im Doppelbett Platz für sie, wenn nicht Emma oder jemand anders bei mir schlief. Wenn der fiese Billy MacIntyre, der in der Schule hinter mir saß, Rotze in meine Zöpfe schmierte, verprügelte mein imaginärer Bruder ihn, bis ich lernte, das selbst zu erledigen. In meiner Phantasie schauten Erwachsene uns an, drei identische dunkle Köpfe nebeneinander, und sagten: Na, dass das Geschwister sind, erkennt man aber auf den ersten Blick, sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich, nicht?
    Ich war dabei nicht auf Zuneigung aus, nein. Ich wollte einfach zu jemandem gehören, zweifelsfrei und unbestreitbar, zu jemandem, bei dem jeder Blick eine Garantie, ein zuverlässiger Beweis dafür war, dass wir ein Leben lang aneinander gebunden waren. Auf Fotos kann ich eine Ähnlichkeit mit meiner Mutter erkennen, zu sonst niemandem. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können. Alle meine Schulfreundinnen hatten die Familiennase oder die Haare ihres Vaters oder die gleichen Augen wie ihre Schwestern. Selbst Jenny Bailey, die adoptiert war, sah aus, als wäre sie die Cousine vom Rest der Klasse – das waren die Achtziger, alle in Irland waren auf die eine oder andere Art miteinander verwandt. Ohne das aufzuwachsen, war für mich als Kind, auf der Suche nach Dingen, die mir Angst machten, gleichsam, als hätte ich kein Spiegelbild. Es gab keinen Beweis dafür, dass ich das Recht hatte, überhaupt da zu sein. Ich hätte Gott weiß woher kommen können, abgeworfen von Außerirdischen, ausgetauscht von Elfen, von der CIA in der Retorte kreiert, und wenn sie eines Tages auftauchten, um mich zurückzuholen, gäbe es nichts auf der Welt, um mich hier zu halten.
    Wenn diese mysteriöse junge Frau eines Morgens in meine Klasse spaziert wäre, damals, hätte mich das zum glücklichsten Menschen auf Erden gemacht. Da sie das aber nicht tat, wurde ich erwachsen, riss mich am Riemen und dachte nicht mehr drüber nach. Jetzt hatte ich mit einem Mal das allerbeste Spiegelbild von allen, und es gefiel mir absolut nicht. Ich hatte mich daran gewöhnt, einfach nur ich zu sein, ohne Verbindung zu irgendwem. Diese Frau war eine Verbindung wie eine Handschelle, die mir aus heiterem Himmel angelegt worden war und so eng saß, dass sie mir bis auf den Knochen schnitt.
    Und ich wusste, wie sie sich die Lexie-Madison-Identität zugelegt hatte. Ich hatte es vor Augen, klar und hart wie gebrochenes Glas, so deutlich, als wäre es mir selbst passiert, und auch das gefiel mir nicht. Irgendwo in der Stadt, an der Theke in einem überfüllten Pub oder beim Durchsehen von Klamotten in einem Laden, und plötzlich hinter ihr: Lexie? Lexie Madison? Mein Gott, wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen! Und danach ging es dann nur noch darum, behutsam vorzugehen und die richtigen beiläufigen Fragen zu stellen (Es ist schon so lange her, ich weiß nicht mal mehr genau, was ich damals gemacht hab, als wir uns zuletzt gesehen haben, du?), sich feinfühlig an alles ranzutasten, was sie wissen musste. Sie war kein Dummkopf gewesen, diese junge Frau.
    Viele Mordfälle entwickeln sich zu erbitterten, ermüdenden geistigen Wettkämpfen, aber diesmal war es anders. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass mein eigentlicher Gegner nicht der Mörder war, sondern die Tote: trotzig, mit aller Kraft ihre Geheimnisse festhaltend und mir in jeder Beziehung ebenbürtig, praktisch Kopf an Kopf.
    Gegen Mittag am Samstag hatte ich mich selbst so verrückt gemacht, dass ich schließlich auf die Arbeitsplatte in der Küche kletterte, den Schuhkarton mit meinem offiziellen Kram vom Schrank holte, den Inhalt auf den Boden kippte und meine Geburtsurkunde hervorkramte. Maddox, Cassandra Jeanne, weiblich, dreitausendvier Gramm. Art der Geburt: Einzelgeburt.
    »Du Idiot«, sagte ich laut und kletterte wieder auf die Arbeitsplatte.

    Am selben Nachmittag kam Frank mich besuchen. Zu dem Zeitpunkt fiel mir bereits die Decke auf den Kopf – meine Wohnung ist klein, ich hatte alles geputzt, was sich putzen ließ –, so dass ich tatsächlich froh war, seine Stimme über die Gegensprechanlage zu hören.
    »Welches Jahr haben wir?«, fragte ich, als er oben an der Treppe war. »Wer ist

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