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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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erreicht –, stehen so ohne weiteres keine Alternativen zur Verfügung. Das einfache Leben ist heutzutage eigentlich keine Option. Entweder du wirst eine Arbeitsdrohne, oder du ernährst dich von Toastbrot und lebst in einem schäbigen möblierten Zimmer mit vierzehn Studenten direkt über dir, und die Vorstellung fand ich nun auch nicht so toll. Ich hab’s eine Weile probiert, aber an arbeiten war bei dem Heidenlärm praktisch nicht zu denken, und der Vermieter war so ein finsterer alter Typ, der zu den unmöglichsten Uhrzeiten bei mir aufkreuzte und quatschen wollte, und … na, egal. Freiheit und Bequemlichkeit sind im Augenblick nur gegen einen hohen Aufschlag zu haben. Wer beides will, muss bereit sein, einen entsprechend hohen Preis zu zahlen.«
    »Hattest du denn keine anderen Möglichkeiten?«, sagte ich. »Ich dachte, du hättest Geld.«
    Daniel warf mir einen ausdruckslosen Blick zu. Ich sah ihn genauso nichtssagend an. Schließlich seufzte er. »Ich glaube, ich hätte gern was zu trinken«, sagte er. »Ich meine, ich müsste hier irgendwo – Ja, da ist sie.« Er hatte sich schräg nach unten gebeugt, um suchend unter die Bank zu greifen, und ich stellte mich blitzschnell auf das Schlimmste ein – es war nichts in greifbarer Nähe, was sich als Waffe geeignet hätte, aber wenn ich ihm Efeuranken ins Gesicht schlug, würde mir das vielleicht genug Vorsprung geben, um zum Mikro zu rennen und Verstärkung zu rufen –, doch als er sich wieder aufrichtete, hatte er eine halbvolle Whiskeyflasche in der Hand. »Die hab ich letzte Nacht mit hier rausgenommen und dann bei der ganzen Aufregung vergessen. Und da müsste auch noch – Ja.« Er brachte ein Glas zum Vorschein. »Möchtest du was?«
    Es war gute Qualität, Jameson’s Crested Ten, und ich hätte weiß Gott einen Drink gebrauchen können. »Nein, danke«, sagte ich. Keine unnötigen Risiken, dieser Typ war wesentlich cleverer, als er tat.
    Daniel nickte, begutachtete das Glas und bückte sich, um es im fließenden Wasser auszuspülen. »Hast du dir schon mal vor Augen geführt«, fragte er, »was für eine unsägliche Angst in diesem Land herrscht?«
    »Nicht so richtig«, sagte ich. Ich hatte Mühe, seinen Gedankengängen zu folgen, aber ich kannte Daniel gut genug, um zu wissen, dass er auf irgendetwas hinauswollte und irgendwann schon auf den Punkt kommen würde. Wir hatten noch rund fünfundvierzig Minuten, ehe Fauré zu Ende war, und ich war schon immer gut darin, Verdächtige das Tempo bestimmen zu lassen. Egal, wie stark du bist oder wie beherrscht, ein Geheimnis zu bewahren – ich weiß, wovon ich rede – wird mit der Zeit zu einer Last, zu einer ermüdenden Last, und du fühlst dich unerträglich einsam. Wenn du sie reden lässt, musst du ihnen nur ab und zu einen Stups geben, sie immer wieder in die richtige Richtung lenken; den Rest machen sie selbst.
    Er schüttelte Wassertropfen aus dem Glas, holte wieder sein Taschentuch hervor und benutzte es zum Abtrocknen. »Die Schuldnermentalität ist mit einer ständigen verzweifelt unterdrückten, unterschwelligen Panik verbunden. Das Verhältnis von Schulden zu Einkommen in unserem Land ist eines der höchsten der Welt, und die meisten von uns sind nur zwei Gehälter davon entfernt, auf der Straße zu landen. Die Mächtigen – Regierungen, Arbeitgeber – nutzen das geschickt aus. Verängstigte Menschen sind fügsam – nicht bloß physisch, sondern auch intellektuell und emotional. Wenn dein Arbeitgeber dir sagt, du sollst Überstunden machen, und du weißt, eine Weigerung könnte alles gefährden, was du hast, dann machst du nicht nur die Überstunden, sondern redest dir obendrein ein, dass du sie freiwillig machst, aus Loyalität der Firma gegenüber, weil du dir sonst eingestehen müsstest, dass du ein Leben in Angst führst. Und ehe du weißt, wie dir geschieht, hast du dich selbst davon überzeugt, dass du eine tiefe emotionale Bindung an irgendein großes multinationales Unternehmen hast: Du hast nicht nur deine Arbeitszeit vertraglich festgeschrieben, sondern dein ganzes Denken. Frei handeln oder frei denken können nur Menschen, die – entweder weil sie heldenhaft tapfer oder verrückt sind oder weil sie wissen, dass ihnen nichts passieren kann – frei von Angst sind.«
    Er goss sich drei Finger Whiskey ein. »Ich bin beim besten Willen kein Held«, sagte er, »und ich halte mich nicht für verrückt. Auch die anderen halte ich für keines von beidem. Und doch wollte ich, dass wir

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