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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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alle die Chance auf Freiheit haben.« Er stellte die Flasche hin und sah mich an. »Du hast mich gefragt, was ich will. Die Frage hab ich mir selbst auch oft gestellt. Vor ein oder zwei Jahren bin ich dann zu dem Schluss gekommen, dass ich im Grunde nur zwei Dinge auf dieser Welt will: die Gesellschaft meiner Freunde und die Möglichkeit zu freiem Denken.«
    Die Worte gingen mir durch und durch, wie ein dünnes Messer aus Heimweh. »Scheint eigentlich nicht besonders viel verlangt«, sagte ich.
    »Oh, und ob«, sagte Daniel und nahm einen Schluck Whiskey. Seine Stimme hatte einen harschen Unterton. »Es war sehr viel verlangt. Daraus ergab sich nämlich, dass wir Sicherheit brauchten – dauerhafte Sicherheit. Womit wir wieder bei deiner letzten Frage wären. Meine Eltern haben mir Kapitalanlagen hinterlassen, die mir ein kleines Einkommen sichern – mehr als genug in den achtziger Jahren, heute knapp ausreichend für eine Einzimmerwohnung. Mit seinem Treuhandfonds kommt Rafe in etwa auf dieselbe Summe. Justins finanzielle Unterstützung endet, sobald er seinen Doktor in der Tasche hat, genau wie Abbys Stipendium, und Lexies wäre dann ebenfalls ausgelaufen. Was glaubst du, wie viele Jobs in Dublin auf Leute warten, die nur Literatur studieren und zusammen sein wollen? In ein paar Monaten wären wir in genau der gleichen Situation gewesen wie die überwiegende Mehrheit in diesem Land: gefangen zwischen Armut und Sklaventum, zwei Gehälter davon entfernt, auf der Straße zu landen, den Launen von Vermietern und Arbeitgebern schutzlos ausgeliefert. Permanent in Angst.«
    Er blickte durch den Efeu über das Gras zur Terrasse, ließ mit einer langsamen Neigung des Handgelenks den Whiskey im Glas kreisen. »Alles, was wir brauchten«, sagte er, »war ein Zuhause.«
    »Reicht das als Sicherheit?«, fragte ich. »Ein Haus?«
    »Aber natürlich«, sagte er ein wenig überrascht. »Psychologisch macht das einen fast unbeschreiblichen Unterschied aus. Wenn dir dein Haus oder deine Wohnung gehört, schuldenfrei, womit kann dir dann noch irgendwer – Vermieter, Arbeitgeber, Banken – drohen? Welche Macht haben andere dann noch über dich? Auf alles andere kannst du notfalls verzichten. Wir alle zusammen wären immer in der Lage, genug Geld fürs Essen aufzutreiben, und keine materielle Angst ist so grundlegend und lähmend wie der Gedanke, das Dach über dem Kopf zu verlieren. Ohne diese Angst wären wir frei. Ich will damit nicht sagen, dass der Besitz eines Hauses ein glückliches Leben wie im Paradies garantiert, nur dass er den Unterschied zwischen Freiheit und Versklavung ausmacht.«
    Er hatte wohl den Ausdruck in meinem Gesicht gedeutet. »Wir sind hier in Irland, Menschenskind«, sagte er mit einem Anflug von Ungeduld. »Wenn du dich nur halbwegs mit unserer Geschichte auskennst, liegt das doch wohl auf der Hand. Die Briten haben etwas ganz Entscheidendes hier gemacht, sie haben sich den Grund und Boden unter den Nagel gerissen, aus irischen Landbesitzern Pächtern gemacht. Danach ergab sich alles andere wie von selbst: Konfiszierung von Ernteerträgen, Misshandlung von Pächtern, Vertreibung, Auswanderung, Hungersnot, die ganze Litanei von Elend und Leibeigenschaft. Und das alles geschah so selbstverständlich und war nicht aufzuhalten, weil die Enteigneten keine solide Grundlage hatten, um sich zur Wehr zu setzen. Ich bin sicher, meine eigene Familie hat sich genauso schuldig gemacht. Vielleicht liegt ja eine gewisse ausgleichende Gerechtigkeit darin, dass ich die Kehrseite der Medaille am eigenen Leib erlebt habe. Aber ich hatte nicht das Bedürfnis, es einfach als meine gerechte Strafe zu akzeptieren.«
    »Ich wohne zur Miete«, sagte ich. »Wahrscheinlich bin ich zwei Gehälter davon entfernt, auf der Straße zu landen. Aber das stört mich nicht.«
    Daniel nickte, nicht überrascht. »Vielleicht bist du tapferer als ich«, sagte er. »Oder vielleicht – entschuldige – weißt du einfach noch nicht, was du vom Leben erwartest. Du hast noch nichts gefunden, woran du wirklich festhalten willst. Das verändert nämlich alles. Studenten und ganz junge Menschen können zur Miete wohnen, ohne dass ihre intellektuelle Freiheit Schaden nimmt, weil es für sie keine Bedrohung darstellt: Sie haben nichts zu verlieren, noch nicht. Ist dir aufgefallen, wie leicht die ganz Jungen sterben? Sie geben die besten Märtyrer ab, egal für welche Sache, die besten Soldaten, die besten Selbstmörder. Das liegt daran, dass sie nichts

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