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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Wunder«, sagte ich. Ich meinte das nicht höhnisch, sondern ehrlich. Einen kurzen Moment lang spürte ich das alte Holz des Treppengeländers unter der Hand, warm und geschmeidig wie ein Muskel, etwas Lebendiges.
    Daniel nickte. »Erstaunlicherweise«, sagte er, »glaube ich an Wunder, an die Möglichkeit des Unmöglichen. Das Haus ist mir jedenfalls immer wie ein Wunder vorgekommen, weil es genau in dem Moment auftauchte, als wir es am meisten brauchten. Mir war auf der Stelle klar, gleich, als der Anwalt meines Onkels mir die Neuigkeit am Telefon mitteilte, was das für uns bedeuten könnte. Die anderen hatten Zweifel, jede Menge. Wir haben monatelang diskutiert. Lexie – und darin liegt eine gewisse tragische Ironie, finde ich – war die Einzige, die von Anfang an von der Idee begeistert war. Abby war am schwersten zu überzeugen – obwohl sie sich am meisten so was wie ein richtiges Zuhause wünschte, oder vielleicht gerade deshalb, keine Ahnung –, aber selbst sie war schließlich dafür. Ich vermute, letzten Endes war die Tatsache ausschlaggebend, dass man, wenn man sich einer Sache absolut sicher ist, fast zwangsläufig diejenigen überzeugen kann, die weder in die eine noch in die anderen Richtung sicher sind. Und ich war mir sicher. Ich war mir nie einer Sache sicherer.«
    »Hast du die anderen deshalb zu Miteigentümern gemacht?«
    Daniel warf mir einen scharfen Blick zu, aber ich sah ihn weiter höflich interessiert an, und nach einem Moment blickte er wieder durch den Efeu in den Garten. »Nun ja, nicht um sie rumzukriegen oder so, falls du das meinst«, sagte er. »Wohl kaum. Aber es war absolut notwendig für das, was mir vorschwebte. Es ging mir nicht um das Haus an sich – sosehr ich es liebe. Es ging mir um Sicherheit, für uns alle, einen sicheren Hafen. Als alleiniger Eigentümer wäre ich, und das ist nun mal die harte Wahrheit, der Vermieter der anderen gewesen, und sie hätten nicht mehr Sicherheit gehabt als zuvor. Sie wären von meinen Launen abhängig gewesen, immer in der Ungewissheit, was ich für Entscheidungen treffen würde, ob ich irgendwann ausziehen oder heiraten oder verkaufen würde. So war es unser gemeinsames Zuhause, für immer.«
    Er hob eine Hand und schob den Efeuvorhang beiseite. Die Steinmauern des Hauses lagen gelblich rot im Licht der untergehenden Sonne, schimmernd und sanft, die Fenster flammend, als würde es hinter ihnen brennen. »Es war so eine wunderschöne Vorstellung«, sagte er. »Fast überirdisch schön. Am Tag unseres Einzugs haben wir den Kamin saubergemacht und uns mit eiskaltem Wasser gewaschen und ein Feuer angezündet und davorgesessen und kalten, klumpigen Kakao getrunken und versucht, Toast zu machen – der Herd funktionierte nicht, der Tauchsieder funktionierte nicht, im ganzen Haus waren nur zwei Glühbirnen intakt. Justin trug seine ganze Garderobe am Leib und jammerte, wir würden alle an Lungenentzündung sterben oder durch das Einatmen von Schimmel oder beides, und Rafe und Lexie ärgerten ihn damit, sie hätten Ratten auf dem Dachboden gehört. Abby drohte den beiden an, sie müssten da oben schlafen, wenn sie nicht endlich aufhörten. Ich hab eine Toastscheibe nach der anderen angebrannt oder ins Feuer fallen lassen, und wir fanden das alle zum Schreien komisch, haben uns schier kaputtgelacht. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so glücklich.«
    Seine grauen Augen waren ruhig, aber der Ton in seiner Stimme, wie ein tiefes Glockenläuten, tat mir irgendwo unter dem Brustbein weh. Ich wusste seit Wochen, dass Daniel unglücklich war, aber erst in diesem Augenblick begriff ich, was immer mit Lexie gewesen war, es hatte ihm das Herz gebrochen. Er hatte alles auf diese eine strahlende Idee gesetzt, und er hatte verloren. Egal, was andere sagen, ein Teil von mir glaubt, dass ich an jenem Tag unter dem Efeu alles hätte erkennen müssen, was dann geschah, das Muster hätte sich vor meinen Augen entfalten müssen, sauber und schnell und unbarmherzig, und ich hätte wissen müssen, wie es aufzuhalten war.
    »Was ist schiefgelaufen?«, fragte ich leise.
    »Die Idee hatte natürlich Schwachstellen«, sagte er gereizt. »Zwangsläufige und verheerende Schwachstellen. Sie basierte auf zwei der größten Mythen der Menschheit: dass Dauerhaftigkeit möglich und der Mensch einfach gestrickt ist. Beides mag in der Literatur funktionieren, ist aber außerhalb der Buchseiten reines Hirngespinst. Unsere Geschichte hätte an dem Abend mit dem kalten

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