Totengleich
hinter den Brillengläsern waren übergroß, grau und unergründlich. »Aber bist du dir wirklich so sicher, dass sie Rache wollte? Sie hätte doch einfach ins Dorf laufen können, an irgendeine Tür klopfen, dann hätten die sicher einen Krankenwagen und die Polizei gerufen. Die Leute im Dorf können uns nicht besonders leiden, aber einer offensichtlich verletzten Frau hätten sie ganz sicher geholfen. Stattdessen ist sie geradewegs zum Cottage, wo sie einfach geblieben ist und gewartet hat. Hast du dir je überlegt, dass sie eine willige Beteiligte an ihrem Tod gewesen sein könnte, den Mörder nicht preisgeben wollte – dass sie das Opfer auf sich genommen hat, am Ende doch wieder eine von uns war? Hast du dir je überlegt, dass du das vielleicht ihretwegen respektieren solltest?«
Die Luft schmeckte seltsam, süßlich, Honig und Salz. »Ja«, sagte ich. Das Reden fiel mir schwer, als würden die Gedanken ewig brauchen, um den Weg zu meiner Zunge zu finden. »Hab ich. Ständig. Aber ich mache das hier nicht für Lexie. Ich mache das, weil es mein Job ist.«
Es ist eine Floskel, zugegeben, und sie rutschte mir ganz automatisch heraus; aber es war, als würden die Worte mit einem Knall durch die Luft peitschen, so schockierend und stark wie ein Blitzschlag, an den Efeuranken hinunterzischen, weiß auf dem Wasser brennen. Für einen Sekundenbruchteil war ich wieder in jenem ersten stinkenden Treppenhaus, die Hände in den Taschen, und blickte in das verdutzte tote Gesicht des jungen Junkies. Ich war wieder stocknüchtern, die traumartige, blendende Helligkeit in der Luft hatte sich aufgelöst, und die Bank fühlte sich fest und klamm unter meinem Hintern an. Daniel betrachtete mich mit einer neuen Aufmerksamkeit in den Augen, als hätte er mich nie zuvor gesehen. Und erst da kam mir die Erleuchtung: Was ich zu ihm gesagt hatte, war die Wahrheit, und vielleicht war es die ganze Zeit wahr gewesen.
»Tja«, sagte er leise. »Wenn das so ist … «
Er lehnte sich zurück, langsam, weg von mir, gegen die Mauer. Eine lange, summende Stille setzte ein.
»Wo«, sagte Daniel schließlich. Er stockte einen Moment, aber seine Stimme blieb vollkommen ruhig. »Wo ist Lexie jetzt?«
»In der Gerichtsmedizin«, sagte ich. »Wir konnten noch keine Angehörigen ausfindig machen.«
»Wir werden uns um alles kümmern. Ich glaube, das wäre in ihrem Sinne.«
»Die Leiche ist Beweismittel in einem ungelösten Mordfall«, sagte ich. »Sie wird bestimmt noch nicht freigegeben. Solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind, wird Lexie bleiben müssen, wo sie ist.«
Ich musste nicht ins Detail gehen. Ich wusste, was er sah. In meinem Kopf wartete eine Multicolor-Diashow mit den gleichen Bildern darauf, abgespielt zu werden. Etwas pulsierte über Daniels Gesicht, ein winziger Krampf, der Nase und Mund zusammenpresste.
»Sobald wir wissen, wer ihr das angetan hat«, sagte ich, »kann ich mich dafür einsetzen, dass der Leichnam an euch andere freigegeben wird. Dass ihr als ihre nächsten Angehörigen anerkannt werdet.«
Seine Augenlider flatterten kurz, dann wurde sein Gesicht ausdruckslos. Im Nachhinein glaube ich – und das soll keine Entschuldigung sein –, dass an Daniel eines am leichtesten zu übersehen war, nämlich wie unbedingt und schonungslos pragmatisch er unter seinem diffusen Elfenbeinturmschleier war. Ein Offizier auf dem Schlachtfeld wird seinen toten Bruder liegen lassen, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, um seine noch lebenden Männer vor dem vorrückenden Feind in Sicherheit zu bringen.
»Selbstverständlich möchte ich, dass du das Haus verlässt«, sagte Daniel. »Die anderen kommen frühestens in einer Stunde oder so wieder, du hast also reichlich Zeit zum Packen und um irgendwelche notwendigen Maßnahmen zu treffen.«
Das hätte mich kaum überraschen dürfen, aber ich fühlte mich trotzdem wie geohrfeigt. Er tastete nach seinem Zigarettenetui. »Mir wäre lieber, wenn die anderen nicht erfahren, wer du bist. Du kannst dir sicherlich vorstellen, was das für ein Schock für sie wäre. Ich weiß zugegebenermaßen zwar nicht, wie das gehen soll, aber du hast dir doch bestimmt mit Detective Mackey eine Art Notfallplan überlegt, oder? Irgendeinen Vorwand, unter dem sie dich abziehen können, ohne Verdacht zu erregen?«
Das war der offensichtliche, der einzig mögliche nächste Schritt. Wenn du auffliegst, machst du die Biege, und zwar schnell. Und was ich erreicht hatte, konnte sich sehen
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