Totengleich
gemeinsame Wissen um die Tat würde uns zerstören. Das klingt vielleicht seltsam, erst recht aus dem Mund eines Akademikers, dem Wissen über fast alles geht, aber lies die biblische Schöpfungsgeschichte oder noch besser, lies die Renaissance-Dramatiker: Denen war klar, dass zu viel Wissen tödlich sein kann. Jedes Mal, wenn wir im selben Raum wären, wäre es mitten unter uns, wie ein blutiges Messer, und irgendwann würde es uns auseinanderschneiden. Und keiner von uns wird es so weit kommen lassen. Seit dem Tag, als du in dieses Haus gekommen bist, haben wir jeden Tropfen Energie, den wir haben, darauf verwandt, das zu verhindern und wieder Normalität in unser Leben zu bringen.« Er lächelte leicht, hob eine Augenbraue. »Sozusagen. Und Lexie zu sagen, wer sie verwundet hat, würde jede Hoffnung auf Normalität zunichtemachen. Glaub mir, das werden die anderen nie tun.«
Wenn man anderen Menschen zu nahe ist, wenn man zu lange mit ihnen zusammen ist und sie zu gern hat, kann es passieren, dass man sie nicht mehr richtig sieht. Falls Daniel nicht bluffte, hatte er einen letzten Fehler gemacht, den gleichen, den er schon die ganze Zeit machte. Er sah die anderen vier nicht so, wie sie waren, sondern so, wie sie hätten sein sollen, wie sie in einer gefühlvolleren und wärmeren Welt hätten sein können. Ihm war die nackte Tatsache entgangen, dass Abby und Rafe und Justin bereits auseinanderdrifteten, schon am Ende waren. Sie starrte ihm jeden Tag ins Gesicht, wehte an ihm vorbei auf der Treppe wie ein kalter Hauch, schlüpfte jeden Morgen mit uns in den Wagen und hockte abends beim Essen dunkel und gebeugt zwischen uns am Tisch, aber er hatte sie nicht ein einziges Mal gesehen. Und außerdem war ihm die Möglichkeit entgangen, dass Lexie eigene Geheimwaffen gehabt und sie mir vermacht haben könnte. Er wusste, dass seine Welt auseinanderbrach, aber irgendwie sah er deren Bewohner noch immer unversehrt inmitten der Trümmer: fünf Gesichter vor einer Schneelandschaft an einem Tag im Dezember, kühl und strahlend und unberührt, zeitlos. Zum ersten Mal in all den Wochen fiel mir ein, dass er viel jünger war als ich.
»Vielleicht nicht«, sagte ich. »Aber ich muss es versuchen.«
Daniel lehnte den Kopf nach hinten gegen die Mauer und seufzte. Mit einem Mal wirkte er schrecklich müde. »Ja«, sagte er. »Ja, das musst du wohl.«
»Die Entscheidung liegt bei dir«, sagte ich. »Du kannst mir jetzt gleich erzählen, was passiert ist, solange ich das Mikro nicht trage: Dann verschwinde ich, ehe die anderen wieder da sind, und wenn es zu Verhaftungen kommt, steht dein Wort gegen meins. Oder aber ich bleibe, und du riskierst, dass ich irgendwas aufs Band kriege.«
Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und richtete sich schwerfällig auf. »Weißt du, mir ist durchaus klar«, sagte er und betrachtete seine Zigarette, als hätte er vergessen, dass er sie zwischen den Fingern hielt, »dass eine Rückkehr zur Normalität für uns vielleicht nicht mehr möglich ist. Mir ist sogar klar, dass unser Plan wahrscheinlich gleich von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Aber genau wie du hatten wir keine andere Wahl, als es zu versuchen.«
Er warf die Zigarette auf die Platten und trat sie mit der Schuhspitze aus. Diese starre Distanziertheit machte sich langsam auf seinem Gesicht breit, die förmliche Maske, die er bei Außenstehenden trug, und in seiner Stimme lag ein kühler, endgültiger Unterton. Er entglitt mir. Solange wir uns weiter unterhielten, hatte ich eine Chance, wenn sie auch minimal war, doch jetzt würde er jeden Augenblick aufstehen und zurück ins Haus gehen, und das wär’s dann gewesen.
Hätte ich geglaubt, dass es etwas bringt, ich hätte mich auf die Steinplatten gekniet und ihn angefleht zu bleiben. Aber nicht bei Daniel, meine einzige Chance bei ihm war Logik, knallharte Vernunft. »Hör mal«, sagte ich mit bewusst ruhiger Stimme, »du schraubst den Einsatz viel höher als nötig. Wenn ich irgendwas aufs Band kriege, dann könnte das unter Umständen Gefängnis für euch alle vier bedeuten – einer wegen Mordes, die anderen drei wegen Beihilfe oder gar Verabredung zum Mord. Was bleibt dann noch? Was ist dann noch da, wenn ihr rauskommt? So unbeliebt, wie ihr in Glenskehy seid, ist kaum davon auszugehen, dass das Haus dann noch steht.«
»Das Risiko müssen wir eingehen.«
»Wenn du mir erzählst, was passiert ist, setze ich mich für euch ein. Darauf geb ich dir mein Wort.« Daniel
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