Totengleich
selbst wenn ich gewollt hätte. Ich rutschte an dem Baumstamm herunter und blieb lange Zeit sitzen, die Arme fest um mich geschlungen.
Da war diese eine Nacht gewesen, während unseres letzten Falles. Um drei Uhr morgens war ich auf meine Vespa gestiegen und raus zum Tatort gefahren, um Rob abzuholen. Auf der Fahrt zurück gehörten die Straßen uns zu so später Stunde ganz allein, und ich fuhr schnell. Rob legte sich mit mir zusammen in die Kurven, und der Roller schien das zusätzliche Gewicht kaum zu spüren. Zwei aufgeblendete Scheinwerfer kamen um eine Biegung auf uns zu, das helle Licht wurde größer, bis es die Straße ausfüllte: ein Lkw, halb auf der Mittellinie, steuerte direkt auf uns zu, aber der Roller wich mit einem Schwenk leicht wie ein Grashalm aus, und der Lkw brauste mit einem rauschenden Windzug und grellem Licht an uns vorbei. Robs Hände auf meiner Taille zitterten hin und wieder, ein kurzes, heftiges Beben, und ich dachte an zu Hause und Wärme und ob ich etwas im Kühlschrank hatte.
Keiner von uns beiden wusste es, aber wir fuhren durch die letzten paar Stunden, die wir hatten. Ich stützte mich locker und gedankenlos auf diese Freundschaft, als wäre sie eine zwei Meter dicke Mauer, doch nicht einmal einen Tag später fing sie an, zu zerbröckeln und einzubrechen, und ich hätte sie durch nichts auf der Welt noch zusammenhalten können. In den Nächten danach wachte ich oft auf, den Kopf voll mit diesen Scheinwerfern, heller und tiefer als die Sonne. Auf dem dunklen Feldweg sah ich sie erneut, hinter den Augenlidern, und da begriff ich, dass ich einfach hätte weiterfahren können. Ich hätte wie Lexie sein können. Ich hätte Vollgas geben können, bis wir von der Straße abgehoben hätten, hinein in die gewaltige Stille im Herzen der Lichter und hinaus auf die andere Seite, wo uns nichts je berühren konnte.
21
Daniel brauchte nur ein paar Stunden, bis er seinen nächsten Versuch startete. Ich saß im Bett, starrte auf die Gebrüder Grimm und las denselben Satz wieder und wieder, ohne ein einziges Wort aufzunehmen, als es kurz und dezent an meiner Tür klopfte.
»Herein«, rief ich.
Daniel schob den Kopf herein. Er war noch angezogen, makellos in seinem weißen Hemd und den glänzenden Schuhen. »Hast du einen Moment Zeit?«
»Klar«, sagte ich genauso höflich und legte das Buch hin. Von Kapitulation oder gar Waffenstillstand konnte bestimmt keine Rede sein, aber mir fiel nichts ein, was einer von uns beiden versuchen könnte, wenn die anderen nicht dabei waren, um sie als Waffe einzusetzen.
»Ich wollte bloß«, sagte Daniel, während er sich umdrehte und die Tür schloss, »kurz mit dir reden. Unter vier Augen.«
Mein Körper dachte schneller als mein Kopf. In der Sekunde, als er mir den Rücken zuwandte, fasste ich ohne zu überlegen durch mein Pyjamaoberteil den Mikrodraht, riss ihn einmal kräftig nach oben und spürte das Plopp, mit dem der Stecker raussprang. Als Daniel sich zu mir umdrehte, lagen meine Hände wieder harmlos auf dem Buch. »Worüber?«, fragte ich.
»Über ein paar Sachen«, sagte Daniel, strich das untere Ende der Bettdecke glatt und setzte sich darauf, »die mir keine Ruhe lassen.«
»Ach ja?«
»Ja. Ungefähr seit du … na, sagen wir, seit du hier ankamst. Kleine Ungereimtheiten, die mit der Zeit beunruhigender wurden. Als du neulich Abend beim Essen noch einen Nachschlag haben wolltest, obwohl Zwiebeln drin waren, sind mir doch ernste Zweifel gekommen.«
Er machte eine höfliche Pause, für den Fall, dass ich zu dem Gespräch etwas beisteuern wollte. Ich starrte ihn an. Ich war fassungslos, dass ich das hier nicht hatte kommen sehen.
»Und dann natürlich«, sagte er, als klar war, dass ich nichts erwidern würde, »die Sache letzte Nacht. Wie du vielleicht weißt oder nicht weißt, ist es ein paarmal vorgekommen, dass du und ich – ich meine natürlich, Lexie und ich – … Na, kurz gesagt, ein Kuss kann so unverwechselbar sein wie ein Lachen. Als wir uns geküsst haben, gestern Nacht, war ich anschließend mehr oder weniger überzeugt, dass du nicht Lexie bist.«
Er blickte mich ungerührt an. Er wollte mich nach Strich und Faden auffliegen lassen: bei meinem Boss, bei meinem Freund, den er erraten hatte, bei den hohen Tieren, die ganz und gar nicht begeistert wären, wenn sie hörten, dass eine verdeckte Ermittlerin mit einem Verdächtigen rumknutschte. Das waren seine brandneuen ferngesteuerten Waffen. Wäre das Mikro eingestöpselt
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