Totengleich
letzte Chance war, es wiedergutzumachen, oder weil ich meine Karriere nur retten konnte – Ich mache das, weil es mein Job ist, hatte ich zu Daniel gesagt, ehe ich wusste, dass mir die Worte über die Lippen kommen würden –, wenn ich diesen Fall aufklärte, oder weil unser gescheiterter Knocknaree-Fall die Luft um mich herum vergiftet hatte und ich ein Gegengift brauchte. Vielleicht ein wenig von allem. Aber vor einer Sache konnte ich nicht die Augen verschließen: Egal, was diese Frau gewesen war oder getan hatte, wir waren seit unserer Geburt miteinander verwoben. Wir hatten uns gegenseitig in dieses Leben geführt, an diesen Ort. Ich wusste Dinge über sie, die sonst niemand auf der Welt wusste. Ich konnte sie jetzt nicht verlassen. Niemand sonst konnte durch ihre Augen sehen und ihre Gedanken lesen, die silbrigen Runenzeichnungen aufspüren, die sie hinterlassen hatte, die einzige Geschichte erzählen, die sie je beendet hatte.
Ich wusste lediglich, dass ich das Ende der Geschichte brauchte, dass ich diejenige sein musste, die sie zu Ende erzählte, und dass ich Angst hatte. Ich bin kein furchtsamer Mensch, aber genau wie Daniel habe ich immer gewusst, dass es einen Preis zu zahlen gilt. Und was Daniel nicht wusste oder nicht erwähnt hatte war, dass der Preis etwas ist, was seine Form unaufhörlich und rasend schnell verändert, und nicht immer kannst du entscheiden, nicht immer darfst du im Voraus wissen, was der Preis sein wird.
Das andere, was mir immer wieder durch den Kopf schoss, so vehement, dass mir jedes Mal fast schwindelig wurde, war die Erkenntnis, dass sie vielleicht genau deshalb nach mir gesucht hatte, dass sie es sich vielleicht genauso gewünscht hatte. Jemanden, der die Plätze mit ihr tauscht. Jemanden, der sich nach der Gelegenheit sehnt, sein eigenes kaputtes Leben wegzuwerfen, es verdunsten zu lassen wie Morgennebel über einer Wiese, jemanden, der sich mit Freude auflösen würde in einen Glockenblumenduft und einen grünen Trieb, während diese Frau wieder erstarkte und aufblühte und wieder feste Form annahm und lebte.
Ich denke, erst in diesem Augenblick glaubte ich, dass sie tot war, diese junge Frau, die ich nie lebendig gesehen hatte. Ich werde nie frei von ihr sein. Ich trage ihr Gesicht, es bleibt ihr sich verändernder Spiegel mit jedem Jahr, das ich älter werde, der Blick auf all die Altersstufen, die sie nie erreicht hat. Ich lebte ihr Leben, ein paar seltsame, strahlende Wochen lang. Ihr Blut ist in das eingegangen, was ich bin, genauso wie es in die Glockenblumen und den Weißdornbusch eingegangen ist. Doch als ich die Chance hatte, den letzten Schritt über die Grenze zu gehen, mich mit Daniel in den Efeu und den Klang des Wassers zu betten, mein Leben loszulassen mit all seinen Narben und all seinen Trümmern und neu anzufangen, lehnte ich sie ab.
Die Luft war so still. Jeden Augenblick würde ich zurückgehen müssen und alles tun, um Whitethorn House zu zerstören.
Wie aus dem Nichts verspürte ich ein solches Verlangen, mit Sam zu reden, dass es sich anfühlte wie ein Schlag in den Magen, als gäbe es für mich nichts Dringenderes auf der Welt, als ihm zu sagen, ehe es zu spät war, dass ich nach Hause kommen würde, dass ich in gewisser Weise, in entscheidender Weise, bereits zu Hause war, dass ich Angst hatte, panische Angst, wie ein Kind im Dunkeln, und dass ich seine Stimme hören musste.
Sein Handy war ausgestellt. Ich erreichte nur die Mailbox-Frau, die mich neckisch aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Sam arbeitete, war vielleicht gerade an der Reihe, Naylors Haus zu überwachen, ging zum x-ten Mal Zeugenaussagen durch, für den Fall, dass er irgendetwas übersehen hatte. Wäre ich nah am Wasser gebaut, hätte ich losgeheult.
Ehe ich richtig begriff, was ich tat, aktivierte ich die Nummernunterdrückung meines Handys und rief Rob an. Ich presste die freie Hand flach aufs Mikro und spürte, wie mein Herz langsam und hart unter der Handfläche schlug. Ich wusste, das war möglicherweise das Dümmste, was ich je im Leben getan hatte, aber ich wusste nicht, wie ich es nicht tun sollte.
»Ryan«, sagte er nach dem zweiten Klingeln, hellwach. Rob hatte schon immer Schlafstörungen. Als ich nicht antworten konnte, sagte er mit einer plötzlichen Unruhe: »Hallo?«
Ich legte auf. In der Sekunde, ehe mein Daumen den Knopf drückte, meinte ich zu hören, dass er schnell und beschwörend »Cassie« sagte, aber es war zu spät, den Daumen zu stoppen,
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