Totengleich
unten, angespannt und gedämpft und leicht hysterisch, und ich machte mich bereit. Die Spätnachmittagssonne flutete in mein Zimmer, und die Luft strahlte so hell, dass ich mich schwerelos fühlte, in Bernstein schwebend, jede meiner Bewegungen so klar und rhythmisch und gemessen, als gehörten sie zu einem Ritual, auf das ich mich schon mein Leben lang vorbereitet hatte. Mir war, als würden meine Hände sich von selbst bewegen, als ich meinen Hüfthalter glattstrich – er wurde inzwischen schmuddelig, und ich konnte ihn ja wohl kaum in die Waschmaschine stecken –, ihn anzog, den Saum in die Jeans stopfte, meinen Revolver hineinschob, so ruhig und präzise, als hätte ich alle Zeit der Welt. Ich dachte an jenen unendlich fernen Nachmittag in meiner Wohnung, als ich zum ersten Mal Lexies Sachen angezogen hatte. Dass sie mir wie eine Rüstung vorgekommen waren, wie zeremonielle Gewänder, dass sie in mir den Wunsch ausgelöst hatten, laut zu lachen vor Glück oder etwas Ähnlichem.
Als die zehn Minuten um waren, zog ich die Tür dieses kleinen Zimmers voller Licht und Maiglöckchenduft hinter mir zu und hörte, wie die Stimmen unten verstummten. Ich wusch mir das Gesicht im Bad, trocknete es gründlich ab und hängte mein Handtuch ordentlich zwischen Abbys und Daniels. Mein Gesicht im Spiegel sah sehr fremd aus, blass und die Augen riesig, und es starrte mich mit einer wichtigen, unergründlichen Warnung an. Ich zog meinen Pullover herunter und überprüfte, dass der Revolver sich nicht abzeichnete. Dann ging ich nach unten.
Sie waren im Wohnzimmer, alle drei. Einen kurzen Moment lang, ehe sie mich sahen, blieb ich an der Tür stehen und beobachtete sie. Rafe lag ausgestreckt auf der Couch, ließ einen Packen Karten in einem rasanten ruhelosen Bogen von Hand zu Hand schnellen. Abby saß zusammengerollt in ihrem Sessel, den Kopf über ihre Puppe gebeugt, die Unterlippe fest zwischen den Zähnen; sie versuchte zu sticken, aber für jeden Stich brauchte sie etwa drei Anläufe. Justin war in einem der Lehnsessel mit einem Buch, und aus irgendeinem Grund war er es, der mir fast das Herz brach: diese schmalen, hochgezogenen Schultern, der gestopfte Ärmel seines Pullovers, die langen Hände, die Gelenke so dünn und verletzlich wie bei einem kleinen Jungen. Der Couchtisch stand voll mit Gläsern und Flaschen – Wodka, Tonic, Orangensaft. Etwas war beim Eingießen verschüttet worden, aber keiner hatte es für nötig befunden, den Tisch sauberzuwischen. Auf dem Fußboden schwankten Efeuschatten wie Scherenschnitte im Sonnenlicht.
Dann hoben sich ihre Köpfe, einer nach dem anderen, und ihre Gesichter wandten sich mir zu, ausdruckslos und wachsam, wie damals am ersten Tag, als sie oben an der Eingangstreppe auf mich gewartet hatten.
»Wie geht’s dir?«, fragte Abby.
Ich zuckte die Achseln.
»Trink was«, sagte Rafe und deutete mit einem Nicken auf den Tisch. »Wenn du was anderes als Wodka willst, musst du’s dir holen.«
»Mir fallen allmählich wieder Bruchstücke ein«, sagte ich. Ein langer schräger Sonnenstrahl lag quer auf den Dielen zu meinen Füßen und ließ den neuen Lack glänzen wie Wasser. Ich hielt den Blick darauf gerichtet. »Bruchstücke von dem Abend. Die haben gesagt, das könnte passieren. Die Ärzte, mein ich.«
Wieder das Flattern und Schnappen der Karten. »Das wissen wir«, sagte Rafe.
»Die haben uns zuschauen lassen«, sagte Abby leise. »Bei deinem Gespräch mit Mackey.«
Ich riss den Kopf hoch und starrte sie mit offenem Mund an. »Ich fass es nicht«, sagte ich nach einem Augenblick. »Hattet ihr vor, mir das zu sagen? Irgendwann mal?«
»Wir sagen es dir jetzt«, sagte Rafe.
»Ihr könnt mich mal«, sagte ich, und das Beben in meiner Stimme klang, als kämen mir schon wieder fast die Tränen. »Ihr könnt mich alle mal. Für wie blöd haltet ihr mich eigentlich? Mackey hat sich wie ein totales Arschloch aufgeführt, und ich hab trotzdem den Mund gehalten, weil ich euch nicht in Schwierigkeiten bringen wollte. Aber ihr wolltet mich einfach weiter im Dunkeln tappen lassen, bis ans Ende unserer Tage, wo ihr alle genau wisst –« Ich drückte mir den Handrücken gegen die Lippen.
Abby sagte, ganz leise und ganz behutsam: »Du hast den Mund gehalten.«
»Ich hätt’s nicht tun sollen«, sagte ich gegen mein Handgelenk. »Ich hätte ihm einfach alles erzählen sollen, was mir wieder eingefallen ist, und zusehen, wie ihr damit klarkommt.«
»Was sonst«, fragte Abby, »was sonst
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