Totengleich
ist dir wieder eingefallen?«
Mein Herz fühlte sich an, als würde es mir jeden Augenblick aus der Brust springen. Falls ich falschlag, würde ich mit Pauken und Trompeten scheitern, und jede Sekunde des letzten Monats wäre umsonst gewesen – in diese vier Leben eingedrungen, Sam verletzt, meinen Job riskiert: alles umsonst. Ich warf jeden Chip, den ich hatte, auf den Tisch, ohne den leisesten Schimmer zu haben, wie gut mein Blatt war. In dem Augenblick dachte ich an Lexie: dass sie ihr ganzes Leben so gelebt hatte, alles blind auf eine Karte gesetzt, und daran, was es sie am Ende gekostet hatte.
»Die Jacke«, sagte ich. »Der Zettel, in der Jackentasche.«
Eine Sekunde lang dachte ich, ich hätte verloren. Ihre Gesichter, die zu mir hochsahen, waren so unglaublich ausdruckslos, als hätte ich etwas völlig Unverständliches gesagt. Ich überlegte mir schon hektisch, wie ich einen Rückzieher machen könnte (Komatraum? Morphiumhalluzination?), als Justin mit einem winzigen verzweifelten Atemhauch flüsterte: »Oh Gott.«
Früher hast du keine Zigaretten mit auf deine Spaziergänge genommen, hatte Daniel gesagt. Ich war so darauf konzentriert gewesen, den Schnitzer zu überspielen, dass mir erst Tage später auffiel: Ich hatte Neds Nachricht verbrannt. Wenn Lexie kein Feuerzeug bei sich trug, dann hatte sie auf Anhieb keine Möglichkeit gehabt, die Zettel loszuwerden – außer sie aufessen, was selbst für sie ein wenig extrem gewesen wäre. Vielleicht hatte sie sie auf dem Weg nach Hause in kleine Stücke zerrissen und peu à peu im Vorbeigehen in Hecken geworfen, wie eine dunkle Hänsel-und-Gretel-Spur. Vielleicht aber war ihr selbst das zu heikel gewesen, und sie hatte die Zettel in die Tasche gesteckt, um sie im Klo runterzuspülen oder zu verbrennen, wenn sie zu Hause war.
Sie war so höllisch vorsichtig gewesen, hatte ihre Geheimnisse wohlgehütet. Ich konnte mir bloß einen Fehler vorstellen, der ihr unterlaufen sein könnte. Nur ein einziges Mal, als sie nach Hause lief, im Dunkeln und im strömenden Regen – denn es musste geregnet haben –, schon ganz aufgewühlt durch das Baby und mit dem Gedanken an Flucht, der durch ihre Adern pulsierte, hatte sie den Zettel in die Tasche gesteckt, ohne daran zu denken, dass die Jacke, die sie trug, nicht allein ihr gehörte. Sie war durch das Gleiche verraten worden, dessen Verrat sie plante: die Nähe zu den anderen, das gemeinsam geteilte Leben.
»Na toll«, sagte Rafe und griff nach seinem Glas, eine Augenbraue hochgezogen. Er versuchte, seine beste Lebensüberdrussmiene aufzusetzen, doch seine Nasenflügel bebten ganz leicht mit jedem Atemzug. »Super gemacht, Justin, mein Freund. Jetzt wird’s interessant.«
»Was? Was soll das heißen, super gemacht? Sie wusste es doch schon –«
»Klappe«, sagte Abby. Sie war weiß im Gesicht geworden, die Sommersprossen hoben sich ab wie aufgemalt.
Rafe überging sie. »Na, falls nicht, dann weiß sie es jetzt.«
»Das ist nicht meine Schuld! Wieso schiebst du mir immer für alles die Schuld in die Schuhe?«
Justin war ganz kurz davor durchzudrehen. Rafe schlug die Augen zur Decke. »Hab ich mich beschwert? Ich finde sowieso, es wird langsam Zeit, reinen Tisch zu machen.«
»Das wird nicht diskutiert«, sagte Abby, »bis Daniel nach Hause kommt.«
Rafe lachte auf. »Ach Abby«, sagte er. »Ich hab dich wirklich gern, aber manchmal mach ich mir Gedanken um dich. Du weißt doch ganz genau, sobald Daniel zu Hause ist, wird es überhaupt nicht mehr diskutiert.«
»Die Sache betrifft uns alle fünf. Wir reden erst drüber, wenn alle da sind.«
»So ein Schwachsinn«, sagte ich. Meine Stimme wurde lauter, und ich ließ es zu. »Das ist der größte Schwachsinn, den ich je gehört hab. Wenn die Sache uns alle betrifft, wieso habt ihr dann nicht schon vor Wochen mit mir drüber geredet? Wenn ihr hinter meinem Rücken drüber reden könnt, dann geht das wahrhaftig auch ohne Daniel.«
»Oh Gott«, flüsterte Justin wieder. Sein Mund war offen, eine Hand zitterte dicht davor.
Abbys Handy klingelte in ihrer Umhängetasche. Auf dieses Geräusch hatte ich während der ganzen Heimfahrt gelauscht, die ganze Zeit in meinem Zimmer. Frank hatte Daniel gehen lassen.
»Lass das!«, brüllte ich so laut, dass ihre Hand, die schon danach greifen wollte, auf halbem Weg verharrte. »Das ist Daniel, und ich weiß sowieso, was er sagen wird. Er wird euch befehlen, kein Wort mit mir zu reden, und ich hab es so verdamm satt , mich
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