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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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nicht geantwortet. Er stand bloß da und hat zum Himmel hochgestarrt, als würde er auf eine göttliche Eingebung warten. Es zog sich langsam zu, aber der Mond war aufgegangen, und ich konnte Daniels Profil sehen. Dann sagte er ganz normal, wie mitten in einem Gespräch beim Abendessen: ›Nehmen wir mal an, sie wollte irgendwohin, statt einfach ziellos im Dunkeln rumzuirren. Sie muss sich doch mit Ned irgendwo getroffen haben. Irgendwo, wo sie geschützt waren, weil das Wetter so wechselhaft ist. Gibt es hier irgendwo in der Nähe –‹< Und dann ist er los. Regelrecht gerannt, richtig schnell. Ich hätte nie gedacht, dass er so schnell rennen kann – ich glaub, ich hatte Daniel vorher noch nie rennen sehn, ihr etwa?«
    »Neulich Abend ist er gerannt«, sagte Rafe und drückte seine Zigarette aus. »Hinter dem Steinewerfer her, dem Typen aus dem Dorf. Er ist echt schnell, wenn’s drauf ankommt.«
    »Ich hatte keine Ahnung, wo er hinwollte, mein einziger Gedanke war, mich nicht von ihm abhängen zu lassen. Irgendwie hat mir die Vorstellung, da draußen ganz allein zu sein, totale Panik gemacht – ich meine, ich weiß, wir waren ein paar hundert Meter vom Haus entfernt, aber so kam es mir nicht vor. Es kam mir … « Justin schauderte. »Es kam mir gefährlich vor«, sagte er. »Als würde irgendwas vor sich gehen, um uns herum, und wir konnten es nicht sehen, aber wenn ich da ganz allein wäre … «
    »Das war der Schock, Justin«, sagte Abby sanft. »Das ist normal.«
    Justin schüttelte den Kopf, starrte noch immer sein Glas an. »Nein«, sagte er. »Das war irgendwie anders.« Er nahm einen hastigen, kräftigen Schluck von seinem Drink und verzog das Gesicht. »Dann hat Daniel die Taschenlampe eingeschaltet, sie rumgeschwenkt – es sah aus wie das Licht von einem Leuchtturm, ich war sicher, jeder meilenweit im Umkreis würde angelaufen kommen – und sie beim Cottage angehalten. Ich hab es nur ganz kurz gesehen, bloß eine Ecke von einer zerfallenen Mauer. Dann ist die Taschenlampe wieder ausgegangen, und Daniel ist über die Mauer auf die Wiese gehechtet. Das nasse, hohe Gras hat sich mir um die Knöchel geschlungen, ich hatte das Gefühl, kaum von der Stelle zu kommen … « Er blinzelte sein Glas an und stellte es abrupt auf das Bücherregal, so dass ein wenig von seinem Drink herausschwappte und blass orangefarben auf die Unterlagen von irgendwem spritzte. »Kann ich eine Zigarette haben?«
    »Du rauchst nicht«, sagte Rafe. »Du bist hier der Brave.«
    »Wenn ich diese Geschichte erzählen muss«, sagte Justin, »will ich eine Scheißzigarette haben.«
    In seiner Stimme lag ein hohes, bedenkliches Zittern. »Lass den Mist, Rafe«, sagte Abby. Sie beugte sich zu Justin und reichte ihm ihre Zigarettenpackung. Als er sie nahm, ergriff sie seine Hand und drückte sie.
    Justin zündete sich ungeschickt die Zigarette an, hielt sie zwischen steifen Fingern hoch, inhalierte zu stark und musste würgen. Niemand sagte etwas, während er hustete, durchatmete, sich mit einem Finger unter der Brille die Augen rieb.
    »Lexie«, sagte Abby. »Können wir nicht einfach … Das Wichtigste weißt du doch jetzt. Können wir es nicht dabei belassen?«
    »Ich will es hören«, sagte ich. Ich konnte kaum atmen.
    »Ich auch«, sagte Rafe. »Diesen Teil hab ich auch noch nicht gehört, und ich hab so ein Gefühl, es könnte interessant werden. Bist du nicht neugierig, Abby? Oder kennst du die Geschichte schon?« Abby zuckte die Achseln.
    »Also gut«, sagte Justin. Seine Augen waren fest geschlossen, und seine Kiefermuskulatur war so verkrampft, dass er kaum die Zigarette zwischen die Lippen bekam. »Ich … Moment noch.«
    Er nahm noch einen Zug, würgte ein wenig, kriegte sich wieder in den Griff. »Okay«, sagte er. Er hatte seine Stimme wieder unter Kontrolle. »Wir sind also zum Cottage. Im Mondlicht konnte ich so gerade eben Konturen erkennen – die Mauern, die Türöffnung. Daniel knipste die Taschenlampe an, die andere Hand teilweise darüber gelegt, und … «
    Seine Augen öffneten sich, huschten von uns weg zum Fenster. »Du saßt in einer Ecke, gegen die Wand gelehnt. Ich hab irgendwas gerufen – vielleicht deinen Namen, ich weiß nicht –, und ich wollte zu dir laufen, aber Daniel hat meinen Arm gepackt, richtig fest, es hat weh getan, und mich zurückgezogen. Er hat seinen Mund an mein Ohr gelegt und gezischt: ›Sei still‹, und dann: ›Nicht bewegen. Du bleibst hier stehen. Und rührst dich nicht.‹ Er

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