Totengleich
tief und bebend die Luft ein. »Es hat ewig gedauert. Der Wind wurde stärker, und überall waren Geräusche. Ich weiß nicht, wie du das aushältst, da mitten in der Nacht rumzuspazieren. Es regnete inzwischen stärker, aber immer nur stoßweise, riesige Wolken fegten über den Himmel, und jedes Mal, wenn der Mond hervorkam, sah das ganze Feld lebendig aus. Vielleicht kam es wirklich von dem Schock, wie Abby meint, aber ich glaube … ich weiß nicht. Vielleicht gibt es ja Orte, die einfach nicht richtig sind. Die nicht gut für einen sind. Für die Psyche.«
Er starrte jetzt irgendwohin mitten im Raum, die Augen blicklos, während er sich erinnerte. Ich musste an das leise Prickeln in meinem Nacken denken, und ich fragte mich, wie oft John Naylor mir wirklich gefolgt war.
»Schließlich hat Daniel sich aufgerichtet und gesagt: ›Das müsste reichen. Gehen wir.‹ Also hab ich wieder nach vorn geschaut und … « Justin schluckte. »Ich hatte die Taschenlampe noch auf dich gerichtet. Dein Kopf war irgendwie auf die Schulter gesunken, und es regnete auf dich drauf, du hattest Regen im Gesicht, und es sah aus, als würdest du im Schlaf weinen, als hättest du was Schlimmes geträumt … Ich konnte – Gott. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dich da einfach so sitzen zu lassen. Ich wäre am liebsten bei dir geblieben, bis es hell wurde, oder wenigstens bis der Regen aufhörte, aber als ich das Daniel gesagt hab, hat er mich angeguckt, als hätte ich sie nicht alle. Da hab ich gesagt, das Allermindeste, was wir tun müssten, wäre doch wohl, dich aus dem Regen rauszuschaffen. Zuerst wollte er das auch nicht, aber als er einsah, dass ich mich ansonsten nicht von der Stelle rühren würde und er mich schon im wahrsten Sinne des Wortes nach Hause schleifen müsste, gab er nach. Er war fuchsteufelswild – ich würde uns noch alle in den Knast bringen und so weiter –, aber es war mir egal. Also haben wir … «
Justins Wangen glänzten nass, aber er merkte es anscheinend nicht. »Du warst so schwer «, sagte er. »Dabei bist du doch so schmächtig, ich hab dich schon x-mal hochgehoben. Aber es war, als würden wir einen großen nassen Sandsack schleppen. Und du warst so kalt und so … dein Gesicht kam mir völlig anders vor, wie bei der Puppe da. Ich konnte gar nicht glauben, dass du das wirklich warst.
Wir haben dich in den Raum mit dem Dach getragen, und ich hab versucht – ich wollte, dass dir nicht mehr so … Es war so kalt . Ich wollte meinen Pullover über dich legen, aber ich wusste, dann würde Daniel irgendwas machen, mich schlagen, keine Ahnung. Er war dabei, alles mit seinem Taschentuch abzuwischen, sogar dein Gesicht, wo ich dich angefasst hatte, und deinen Hals, wo er dir den Puls … Er hat einen Ast von einem der Sträucher an der Tür abgebrochen und damit den ganzen Boden gefegt. Fußabdrücke, schätze ich. Er sah … Gott! Er sah grotesk aus. Wie er da rückwärts durch diesen grauenvollen Raum ging, über den Ast gebeugt, und gefegt hat. Die Taschenlampe leuchtete ihm durch die Finger, und so riesige Schatten schwankten über die Wände … «
Er wischte sich übers Gesicht, starrte nach unten auf seine Fingerspitzen. »Ich hab ein Gebet für dich gesprochen, bevor wir gingen. Ich weiß, das ist nicht viel, aber … « Sein Gesicht war wieder nass. »Möge ihr das ewige Licht leuchten«, sagte er.
»Justin«, sagte Abby sachte. »Sie ist doch hier.«
Justin schüttelte den Kopf. »Dann«, sagte er, »sind wir zurück nach Hause.«
Nach einem Augenblick ließ Rafe sein Feuerzeug schnippen, fest, und wir fuhren alle drei zusammen. »Sie tauchten auf der Terrasse auf«, sagte er, »und sahen aus wie aus Die Nacht der lebenden Toten .«
»Wir beide haben sie praktisch angeschrien, wollten endlich wissen, was passiert war«, sagte Abby, »aber Daniel hat bloß an uns vorbeigestarrt, mit so einem schrecklichen, glasigen Blick, ich glaube, er hat uns gar nicht richtig gesehen. Er hat einen Arm ausgestreckt, um Justin daran zu hindern, ins Haus zu gehen, und hat gesagt: ›Hat einer von euch noch schmutzige Wäsche?‹«
»Wir hatten nicht den blassesten Schimmer, wovon er redete«, sagte Rafe. »Es war wirklich kein passender Moment, sich kryptisch auszudrücken. Ich wollte ihn packen, ihn schütteln, damit er mit der Sprache rausrückte, was zum Teufel passiert war, aber er ist zurückgewichen und hat mich angeblafft: ›Fass mich nicht an.‹ So, wie das rauskam – ich wäre fast hinten
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