Totengleich
müssen, aber irgendwie hatte mich die betörende Bedingungslosigkeit des Jobs derart gefangen, dass ich schaffte, das Offensichtlichste daran zu übersehen: Du lügst von morgens bis abends. Ich mag keine Lügen, lüge nicht gern, mag Leute nicht, die lügen, und ich fand es total daneben, auf der Suche nach der Wahrheit zur Lügnerin zu werden. Monatelang wurstelte ich mich mit irgendwelchen Ausflüchten und Hinhaltetaktiken durch, schmeichelte mich bei diesem Klein-Dealer ein, machte Witze und sarkastische Bemerkungen, um ihn mit echten Wahrheiten zu täuschen. Eines Tages dann schloss er seine zwei Gehirnzellen mit Speed kurz, bedrohte mich mit einem Messer und fragte, ob ich ihn nur benutzen würde, um an seinen Lieferanten ranzukommen. Ich wich ihm eine halbe Ewigkeit lang aus – Reg dich ab, was hast du für ein Problem, wie kommst du plötzlich darauf, dass ich dich bescheißen will? –, spielte auf Zeit und hoffte inständig, dass Frank über das Mikro, das ich trug, mithörte. Dealer-Boy drückte mir das Messer an die Rippen und schrie mir ins Gesicht, Na los, sag schon, sag schon. Erzähl mir bloß keinen Scheiß. Ja oder nein? Als ich zögerte – denn natürlich wollte ich genau das, wenn auch nicht aus dem Grund, den er vermutete, und dieser Augenblick war ja wohl zu kritisch, um zu lügen –, stach er zu. Dann brach er in Tränen aus, und irgendwann war Frank da und schaffte mich unauffällig ins nächste Krankenhaus. Aber ich wusste es. Das Opfer war gefordert worden, und ich hatte es verweigert. Die dreißig Stiche, mit denen ich genäht werden musste, waren mir eine Warnung: Tu das nie wieder.
Ich war gut im Morddezernat. Rob erzählte mir mal, dass er während der Arbeit an seinem ersten Fall die ganze Zeit detaillierte Visionen hatte, wie er irgendwie Mist bauen würde: auf DNA-Beweise niesen, einen Verdächtigen fröhlich laufenlassen, der sich gerade mit einer rausgerutschten Bemerkung verraten hatte, an jedem noch so deutlichen Indiz blicklos vorbeistolpern. Mir ging das nie so. Mein erster Mordfall war so ungefähr das Banalste und Deprimierendste, was man sich vorstellen kann – ein junger Junkie, erstochen im Treppenhaus einer trostlosen Mietskaserne, die schmuddeligen Stufen unterhalb von ihm mit Blut beschmiert und neugierige Augen hinter verriegelten Türen und der Pissegestank allgegenwärtig. Ich stand auf dem Treppenabsatz, die Hände in den Taschen, damit ich nichts aus Versehen anfasste, schaute zu dem Opfer hoch, das ausgestreckt auf den Stufen lag, die Trainingshose halb runtergerutscht durch den Sturz oder den Kampf, und ich dachte: Da bin ich also. Das war die ganze Zeit mein Ziel.
Ich erinnere mich noch an das Gesicht des Junkies: zu dünn, ein Flaum heller Bartstoppeln, der Mund leicht geöffnet, als hätte ihn das alles völlig verstört. Er hatte einen schiefen Vorderzahn. Obwohl die Chance verschwindend gering war und trotz O'Kellys finsteren Prophezeiungen lösten wir den Fall.
In dem Knocknaree-Fall hatte der Gott des Morddezernats meinen besten Freund und meine Aufrichtigkeit gefordert und mir im Gegenzug nichts dafür gegeben. Ich ließ mich versetzen, obwohl ich wusste, dass ich für die Fahnenflucht einen Preis würde bezahlen müssen. Im Hinterkopf rechnete ich damit, dass meine Erfolgsrate abstürzen, jeder brutale Typ mich krankenhausreif schlagen, jede tobsüchtige Frau mir die Augen auskratzen würde. Ich hatte keine Angst: Ich freute mich darauf, dass es vorbei wäre. Aber als nichts geschah, schwante mir, wie eine langsam ansteigende kalte Flut, dass das die Strafe war: freigelassen zu werden, eigene Wege gehen zu können. Ohne meinen Schutzgott auskommen zu müssen.
Und dann rief Sam an, und Frank wartete oben auf dem Hügel, und starke, unerbittliche Hände zogen mich wieder zurück. Sie können das alles einem Hang zum Aberglauben zuschreiben, wenn das die einfachste Erklärung ist, oder dem intensiven, geheimen Leben, wie es viele Waisen oder Einzelkinder führen. Von mir aus. Aber vielleicht erklärt es ja in gewisser Weise, warum ich zur SOKO Spiegel ja sagte und warum ich, als es dann losging, durchaus mit der Möglichkeit rechnete, getötet zu werden.
4
Die Woche danach verbrachten Frank und ich damit, Lexie Madison Version 3.0 auszuarbeiten. Tagsüber quetschte er Leute nach Informationen über sie aus, ihre Gewohnheiten, ihre Stimmungen, ihre Beziehungen, dann kam er zu mir in die Wohnung und bläute mir den ganzen Abend lang die Ausbeute des
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