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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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nachgesehen hatte, waren so gut wie alle Möglichkeiten erschöpft. Das Badezimmer war groß: Dreißiger-Jahre-Fliesen mit schwarz-weißer Bordüre, Wanne aus angeschlagener Emaille, Glasfenster mit zerfledderten Gardinen. Die Tür ließ sich verriegeln.
    Nichts im Spülkasten oder dahinter. Ich setzte mich auf den Boden und zog die Holzverkleidung der Wanne ab. Es ging mühelos. Ein schabendes Geräusch, aber so leise, dass es sich ohne weiteres mit laufendem Wasser oder der Klospülung übertönen ließe. Dahinter waren Spinnweben, Mäusekot, Fingerspuren im Staub und versteckt in einer Ecke ein winziges rotes Notizbuch.
    Mein Atem ging, als wäre ich gerannt. Das gefiel mir nicht. Es gefiel mir nicht, dass ich in diesem riesigen Haus zielstrebig auf Lexies Versteck zugesteuert war, als hätte ich keine andere Wahl gehabt. Es kam mir so vor, als wäre das Haus um mich herum enger geworden und näher gerückt, als würde es sich über meine Schulter beugen, zuschauen, aufpassen.
    Ich ging nach oben in mein Zimmer – Lexies Zimmer – und holte meine Handschuhe und eine Nagelfeile. Dann hockte ich mich wieder auf den Badezimmerboden, fasste das Notizbuch ganz vorsichtig am Rand an und zog es heraus. Mit der Nagelfeile blätterte ich die Seiten um. Früher oder später würde das Labor es auf Fingerabdrücke untersuchen müssen.
    Ich hatte ein Schütte-dein-Herz-aus-Tagebuch erhofft, aber ich hätte es besser wissen müssen. Das hier war nur ein Terminkalender, Umschlag aus rotem Lederimitat, eine Seite für jeden Tag. Die ersten Monate waren voll mit Terminen und Gedächtnisstützen in einer raschen, runden Schrift: Kopfsalat, Brie, Knoblauchsalz; 11 Tut R 3017; Stromrechn; D fragen wg. Ovid-Buch?? Normales, harmloses Zeug, und beim Lesen fühlte ich mich unwohler als je zuvor. Als Detective gewöhnst du dich daran, auf jede erdenkliche Weise in die Privatsphäre anderer Leute einzudringen, ich hatte in Lexies Bett geschlafen, und ich trug ihre Sachen, aber das hier, das hier waren die kleinen, alltäglichen Überbleibsel ihres Lebens, es war allein für sie bestimmt gewesen, und ich hatte kein Recht dazu.
    In den letzten paar Märztagen jedoch veränderte sich etwas. Die Einkaufslisten und Tutorentermine verschwanden, und die Seiten wurden leer. Es gab nur drei Einträge, in einer harten, hingeworfenen Schrift. Am letzten Tag im März: 10.30 N. Am fünften April: 11.30 N. Und am elften, zwei Tage vor ihrem Tod: 11 N.
    Kein N im Januar oder Februar; keine Erwähnung bis zu dem Termin am letzten Märztag. Die Liste mit Lexies BKs war nicht lang, und soweit ich mich entsinnen konnte, war keiner dabei, der mit N anfing. Ein Spitzname? Ein Ort? Ein Café? Irgendwer aus ihrem alten Leben, wie Frank gesagt hatte, jemand, der aus dem Nichts wieder aufgetaucht war und den Rest ihrer Welt leergewischt hatte?
    Quer über die letzten zwei Tage war eine Liste mit Buchstaben und Zahlen, in dem gleichen furiosen Gekritzel. ams 79, lhr 34, edi 49, cdg 59, alc 104 . Der Punktestand von irgendeinem Spiel, Geldsummen, die sie sich geliehen oder jemandem geborgt hatte? Abbys Initialen lauteten AMS – Abigail Marie Stone –, aber die anderen passten zu keinem auf der BK-Liste. Ich starrte sie lange an, doch das Einzige, woran sie mich erinnerten, waren die Nummernschilder von Oldtimern, und ich konnte mir Lexie beim besten Willen nicht als eingefleischten Oldtimerfan vorstellen, und falls doch, wieso sie daraus so ein Staatsgeheimnis hätte machen sollen.
    Niemand hatte mit irgendeinem Wort erwähnt, dass sie sich in den letzten Wochen nervöser oder anders als sonst verhalten hatte. Es ging ihr anscheinend gut, wie alle, die von Frank und Sam vernommen worden waren, versichert hatten. Sie hatte fröhlich gewirkt. Sie hatte genau wie immer gewirkt. In dem letzten Videoclip, der drei Tage vor ihrem Tod aufgenommen worden war, kam sie eine Leiter vom Dachboden heruntergeklettert, ein rotes Halstuch um die Haare gebunden und über und über mit grauem Staub bedeckt, niesend und lachend, und hielt etwas in der freien Hand: »Nein, guck doch, Rafe, guck doch mal! Das ist« – Niesexplosion – »das ist ein Opernglas, ich glaube, aus Perlmutt, ist das nicht wunderschön?« Was immer ihr Geheimnis war, sie hatte es gut versteckt. Zu gut.
    Der Rest des Kalenders war leer, bis auf den zweiundzwanzigsten August: Dads Gtag .
    Also doch kein Feenkind, keine kollektive Halluzination. Sie hatte einen Vater, irgendwo da draußen, und sie

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