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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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hatte seinen Geburtstag nicht vergessen wollen. Sie hatte wenigstens eine dünne Verbindung zu ihrem früheren Leben bewahrt.
    Ich ging die Seiten noch einmal durch, diesmal langsamer, überprüfte, ob mir irgendetwas entgangen war. Zu Anfang waren hier und da ein paar Daten umkringelt: 2. Januar, 29. Januar, 25. Februar. Auf der ersten Seite war ein winziger Kalender für Dezember 2004 abgedruckt, und wie zu erwarten war der sechste umkringelt.
    Jeweils siebenundzwanzig Tage Abstand. Lexies Periode kam auf den Tag genau, und sie hatte gewissenhaft Buch geführt. Der vierundzwanzigste März dagegen war nicht umkringelt, und sie musste den Verdacht gehabt haben, schwanger zu sein. Irgendwo – nicht zu Hause, im Trinity oder in einem Café, wo niemand die Packung im Mülleimer bemerken und stutzen könnte – hatte sie einen Schwangerschaftstest gemacht, und etwas hatte sich verändert. Aus ihrem Terminkalender war ein brennendes Geheimnis geworden, N hatte Einzug gehalten, und alles andere war weggefallen.
    N. Ein Gynäkologe? Eine Klinik? Der Vater des Babys?
    »Was zum Teufel hattest du vor?«, sagte ich leise in den leeren Raum. Hinter mir erklang ein Flüstern, und ich schreckte zusammen, doch es war nur der Wind, der die Gardinen aufplusterte.

    Ich überlegte, den Terminkalender mit in mein Zimmer zu nehmen, entschied mich aber dann dagegen, da Lexie vermutlich Gründe gehabt hatte, ihn nicht in ihrem Zimmer aufzubewahren, und das Versteck hatte offenbar bislang gute Dienste getan. Ich schrieb die wichtigsten Einträge in mein eigenes Notizbuch ab, verstaute ihres wieder unter der Wanne und brachte die Abdeckung an. Dann ging ich durchs Haus, um es genauer kennenzulernen und gleichzeitig eine rasche, nicht allzu gründliche Durchsuchung vorzunehmen. Frank würde bestimmt hören wollen, dass ich etwas Nützliches mit meinem Tag angefangen hatte, und ich wusste bereits, dass ich ihm von meiner Entdeckung des Terminkalenders nichts erzählen würde, wenigstens vorläufig.
    Ich fing unten an und arbeitete mich nach oben. Sollte ich etwas Brauchbares finden, hätten wir ein gewaltiges Problem, es als Beweismittel zugelassen zu bekommen. Ich war Hausbewohnerin, was bedeutete, dass ich mich in den Gemeinschaftsräumen nach Lust und Laune umsehen konnte, die Zimmer der anderen aber tabu waren, und überhaupt, ich hatte mir unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Einlass verschafft. Mit so etwas verdienen Anwälte sich ihren neuen Porsche. Doch sobald du weißt, wonach du suchst, kannst du fast immer einen legalen Weg finden, es in die Hände zu bekommen.
    Das Haus hatte irgendwie eine leicht phantastische Atmosphäre, wie aus einem Märchen – die ganze Zeit war ich darauf gefasst, eine geheime Treppe runterzufallen oder durch einen Raum in einen völlig neuen Korridor zu geraten, der nur jeden zweiten Montag existierte. Ich arbeitete schnell: Ich schaffte es nicht, mir mehr Zeit zu nehmen, wurde einfach das Gefühl nicht los, dass irgendwo auf dem Dachboden eine riesige Uhr ablief, die Sekunden eimerweise davonflossen.
    Im Erdgeschoss lagen das Wohn- und Esszimmer, die Küche, die Toilette und Rafes Zimmer. Rafes Zimmer war ein Schlachtfeld – überall Berge von Kleidungsstücken in Kartons, klebrige Gläser und Stapel von Papier –, aber auf eine organisierte Art. Man hatte das Gefühl, dass er im Großen und Ganzen wusste, wo alles war, auch wenn sonst niemand da durchsteigen konnte. An einer Wand hatte er mit Zeichenkohle herumgekritzelt, schnelle und ziemlich beeindruckende Skizzen für eine Art Wandbild, mit einer Birke, einem Irish Setter und einem Mann mit Zylinderhut. Auf dem Kaminsims stand – Heureka! – das Kopfdings: eine Phrenologiebüste aus Porzellan mit ihren eingezeichneten Hirnarealen. Über Lexies rotes Halstuch hinweg starrte sie erhaben vor sich hin. Rafe wurde mir langsam sympathisch.
    Im ersten Stock lagen Abbys Zimmer und das Badezimmer nach vorne raus, Justins Zimmer und ein Gästezimmer nach hinten raus – entweder war es zu kompliziert gewesen, das Gästezimmer zu entrümpeln, oder Rafe fühlte sich unten ganz wohl so allein. Ich fing mit dem Gästezimmer an. Bei dem Gedanken, in ein Zimmer der anderen zu gehen, spürte ich einen absurd unangenehmen Geschmack im Mund.
    Großonkel Simon hatte offenbar nie, niemals etwas weggeworfen. Das Zimmer bot einen schizophrenen, traumähnlichen Anblick, eine Art verschollene Gerümpelkammer des Verstandes: drei Kupferkessel mit Löchern

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