Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
Vom Netzwerk:
auf Kisten, wo Sachen weggenommen worden waren. Auf den verstaubten Dielen war ein Wirrwarr von schwachen Schuhabdrücken.
    Um irgendetwas zu verstecken – eine Mordwaffe oder irgendein Beweismittel oder irgendeine kleine, unbezahlbare antike Kostbarkeit –, wäre dieser Raum ganz gut geeignet. Ich sah in allen Kisten nach, die geöffnet worden waren, und hielt mich dabei von den Fingerabdrücken fern, nur für alle Fälle, aber sie waren bis oben vollgestopft mit Seiten über Seiten, auf denen nur krakeliges Federhaltergekritzel war. Soweit ich das erkennen konnte, hatte irgendwer, vermutlich Großonkel Simon, an einer Geschichte der Familie March über mehrere Jahrhunderte hinweg gearbeitet. Die Marches lebten schon eine ganze Weile in der Gegend – die frühste Erwähnung stammte aus dem Jahr 1734, als das Haus gebaut worden war –, aber sie hatten anscheinend nichts Interessanteres zustande gebracht, als zu heiraten, das eine oder andere Pferd zu kaufen und nach und nach fast ihren ganzen Besitz zu verlieren.
    Daniels Zimmer war abgeschlossen. Zu den lebenswichtigen Fertigkeiten, die ich von Frank gelernt hatte, gehörte das Knacken von Schlössern, und das hier sah ziemlich einfach aus, aber ich war schon kribbelig wegen des Terminkalenders, und die Tür da machte mich noch nervöser. Ich hatte keine Ahnung, ob Daniel sein Zimmer immer abschloss oder nur meinetwegen. Ich war mit einem Mal sicher, dass er irgendeine Falle gelegt hatte – ein Haar auf dem Rahmen, ein Glas Wasser gleich hinter der Tür –, die mich verraten würde, wenn ich das Zimmer betrat. Ich ließ es.
    Zum Schluss nahm ich mir Lexies Zimmer vor – es war bereits durchsucht worden, aber ich wollte es selbst tun. Anders als Onkel Simon hatte Lexie so gut wie nichts aufbewahrt. Das Zimmer war nicht unbedingt ordentlich zu nennen – die Bücher auf den Regalen sahen aus wie hineingestopft, nicht wie aufgestellt, die Klamotten waren größtenteils in Haufen auf dem Schrankboden verteilt; unter dem Bett lagen drei leere Zigarettenpackungen, ein halber Schokoriegel und ein zerknülltes Blatt mit Notizen über Villette von Charlotte Brontë –, aber es war zu spärlich eingerichtet, um chaotisch zu sein. Keine Dekosachen, keine alten abgerissenen Kinokarten oder Geburtstagskarten oder getrocknete Blumen, keine Fotos. Die einzigen Andenken, die sie gewollt hatte, waren die Handyvideos. Ich blätterte jedes Buch durch und stülpte jede Tasche nach außen, aber das Zimmer offenbarte mir nichts.
    Es hatte allerdings die gleiche Aura von Dauerhaftigkeit. An der Wand neben ihrem Bett hatte Lexie Anstrichfarben ausprobiert, mit breiten, schnellen Strichen: Ocker, Altrosa, Kobaltblau. Wieder verspürte ich einen neidischen Stich. Du kannst mich mal , sagte ich im Kopf zu Lexie, du hast länger hier gewohnt, okay, aber ich werd dafür bezahlt.
    Ich setzte mich auf den Boden, kramte mein Handy aus dem Koffer und rief Frank an.
    »Hey, Kleines«, sagte er beim zweiten Klingeln. »Schon aufgeflogen, ja?« Er war gut gelaunt.
    »Stimmt«, sagte ich. »Tut mir echt leid. Komm mich abholen.«
    Frank lachte. »Wie läuft’s?«
    Ich stellte ihn auf Freisprechfunktion, legte das Handy neben mich auf den Boden und verstaute Handschuhe und Notizbuch wieder im Koffer. »Ganz gut, schätz ich. Ich glaube nicht, dass einer von ihnen Verdacht geschöpft hat.«
    »Warum auch? Kein vernünftiger Mensch würde so was Unwahrscheinliches für möglich halten. Hast du was Schönes für mich?«
    »Sie sind alle an der Uni, deshalb hab ich mich schnell mal im Haus umgesehen. Kein blutiges Messer, keine blutigen Klamotten, keine Renoirs, keine unterschriebenen Geständnisse. Nicht mal ein Beutelchen Gras oder ein Pornoheft. Die sind ganz schön brav, für Studenten.« Meine Verbände waren in durchnummerierten Päckchen so angeordnet, dass die Flecken heller werden würden, je mehr die angebliche Wunde heilte, nur falls jemand die Abartigkeit besaß, den Abfalleimer zu kontrollieren – in diesem Job kalkuliert man immer ein gewisses Maß an Abartigkeit mit ein. Ich fand den Verband mit der Nummer 2 und entfernte die Verpackung. Wer auch immer die Flecken eingefärbt hatte, er liebte seine Arbeit.
    »Irgendeine Spur von dem Tagebuch?«, fragte Frank. »Das berühmte Tagebuch, das Daniel netterweise dir gegenüber erwähnt hat, aber nicht uns gegenüber.«
    Ich lehnte mich nach hinten gegen das Bücherregal, schob mein Oberteil ein Stück hoch und zog den alten Verband ab.

Weitere Kostenlose Bücher