Totengleich
wäre das Monate her.
Aus der Entfernung sah das Haus zart und entrückt aus, wie etwas aus einem alten Aquarell. Dann drückte ein flinker, kleiner Wind das Gras nieder, hob die langen Efeuranken an, und die Wiese sackte mir unter den Füßen weg. An einer der Seitenmauern, nur zwanzig oder dreißig Schritte von mir entfernt, war jemand hinter dem Efeu; jemand, der schmächtig und dunkel wie ein Schatten auf einem Thron saß. Meine Nackenhaare sträubten sich, eine langsame Welle.
Mein Revolver klebte noch immer an der Rückseite von Lexies Nachttisch. Ich biss mir fest auf die Lippe und hob einen dicken, abgefallenen Ast aus dem Kräutergarten auf, ohne die Augen von dem Efeu zu nehmen, der jetzt wieder harmlos herabhing wie zuvor – die Brise hatte sich gelegt, der Garten war still und sonnig wie ein Traum. Ich ging an der Mauer entlang, lässig, aber schnell, drückte mich schließlich flach dagegen, umfasste meinen Ast fest und schlug den Efeu mit einer jähen Bewegung hoch.
Es war niemand da. Die Baumstämme und überwucherten Zweige und Efeuranken formten eine Nische an der Mauer, eine kleine sonnenbesprenkelte Blase. Darin standen zwei Steinbänke, und zwischen ihnen rieselte ein Rinnsal Wasser durch ein Loch in der Mauer und an flachen Stufen hinab in einen kleinen, trüben Tümpel; sonst nichts. Schatten flossen ineinander, und für einen kurzen Moment nahm ich die Illusion erneut wahr, die Bänke bekamen hohe Rückenlehnen und streckten sich, die schlanke Gestalt saß aufrecht da. Dann ließ ich den Efeu fallen, und sie war fort.
Anscheinend hatte nicht bloß das Haus eine ganz eigene Persönlichkeit. Sobald ich wieder ruhig atmen konnte, sah ich mir die Nische genauer an. Auf der Sitzfläche der Bänke hatte sich in den Ritzen Moos gebildet, das aber überwiegend weggekratzt worden war: Irgendwer kannte diesen Platz. Er eignete sich vorzüglich als Treffpunkt für ein Rendezvous, wie ich fand, aber er lag zu nah am Haus, um Fremde aus der Gegend anzulocken, und die dichte Matte aus Blättern und Zweigen um den kleinen Teich herum sah aus, als wäre schon länger keiner mehr hier gewesen. Ich wühlte sie mit dem Fuß ein wenig auf, und zum Vorschein kamen große, glatte Steinplatten. Metall funkelte in der Erde, und mein Herz machte einen Sprung – Messer –, aber dafür war es zu klein. Ein Knopf: Löwe und Einhorn, verkratzt und eingedrückt. Jemand, vor langer Zeit, war in der britischen Armee gewesen.
Das Loch in der Gartenmauer, durch das das Wasser floss, war mit Dreck verstopft. Ich steckte den Knopf in die Tasche, kniete mich auf die Steinplatten und machte das Loch mit dem Ast und mit bloßen Händen frei. Es dauerte eine Weile; die Mauer war dick. Als ich es geschafft hatte, murmelte ein Miniwasserfall fröhlich vor sich hin, und meine Hände rochen nach Erde und vermodertem Laub.
Ich spülte sie ab und setzte mich eine Weile auf eine der Bänke, rauchte und lauschte dem Wasser. Es war schön da drin, warm und still und verborgen, wie die Höhle eines Tieres oder das Versteck eines Kindes. Der Teich füllte sich, winzige Insekten schwebten über der Oberfläche. Das überschüssige Wasser lief durch einen kleinen Abfluss in den Boden. Ich fischte schwimmende Blätter heraus, und nach einer Weile war der Teich so klar, dass ich mein sich kräuselndes Spiegelbild darin sehen konnte.
Nach Lexies Uhr war es halb fünf. Ich hatte vierundzwanzig Stunden überstanden, womit vermutlich eine ganze Reihe von Leuten im SOKO-Raum ihre Wette verloren hatten. Ich steckte meinen Zigarettenstummel zurück in die Packung, tauchte unter dem Efeu her nach draußen und ging ins Haus, um mich ein wenig in die Dissertationsunterlagen einzulesen. Die Haustür öffnete sich widerstandslos, als ich den Schlüssel drehte, die Luft in der Diele regte sich, als ich eintrat, und sie fühlte sich nicht mehr übermäßig intim an. Sie fühlte sich an wie ein leises Lächeln und eine kühle, kurze Berührung der Wange, als würde sie mich willkommen heißen.
7
In derselben Nacht machte ich meinen Spaziergang. Ich musste Sam anrufen, und außerdem hatten Frank und ich einhellig entschieden, dass es besser für mich war, wenn Lexie so schnell wie möglich ihren gewohnten Trott wiederaufnahm, nicht allzu oft die Trauma-Karte spielte, zumindest noch nicht. Kleine Unterschiede waren ohnehin unvermeidlich, und mit etwas Glück würden die anderen sie mit dem Messerangriff auf mich erklären. Aber je mehr ich die Sache in
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