Totengleich
war, fiel es ihm nicht auf.
»Ich hab die Jungs vom FBI angerufen und maile ihnen gleich Fingerabdrücke und Fotos. Gut möglich, dass unsere Unbekannte wegen irgendwas auf der Flucht war. Könnte also durchaus sein, dass die was über sie haben.«
Lexies Gesicht beobachtete mich argwöhnisch in dreifacher Ausgabe aus dem Kommodenspiegel. »Halt mich auf dem Laufenden, ja?«, sagte ich. »Egal, was du hast.«
»Mach ich. Willst du mit deinem Freund sprechen? Er ist hier.«
Sam und Frank zusammen in einem SOKO-Raum. Auch das noch. »Ich ruf ihn später an«, sagte ich.
Das tiefe Murmeln von Sams Stimme im Hintergrund, und für den Bruchteil einer Sekunde war der Wunsch, mit ihm zu sprechen, so heftig und jäh wie ein Schlag in die Magengrube. »Er sagt, er ist mit deinen letzten sechs Monaten im Morddezernat durch«, sagte Frank, »und von all den Leuten, die sauer auf dich sein könnten, kommt absolut niemand in Frage. Er nimmt sich jetzt peu à peu die älteren Fälle vor und hält dich auf dem Laufenden.«
Mit anderen Worten, die Sache hier hatte nichts mit dem Knocknaree-Fall zu tun. Himmel, Sam. Indirekt und aus der Ferne versuchte er, mich zu beruhigen: Leise und verbissen konzentrierte er sich auf die einzige Bedrohung, die er sich vorstellen konnte. Ich fragte mich, wie viel er letzte Nacht geschlafen hatte. »Danke«, sagte ich. »Sag ihm danke, Frank. Sag ihm, ich melde mich bald bei ihm.«
Ich musste nach draußen – einerseits wegen der optischen Reizüberflutung, all die vielen seltsamen staubigen Gegenstände, und andererseits, weil das Haus anfing, sich auf meinen Nacken auszuwirken. Die Luft um mich herum fühlte sich zu intim und zu wissend an, wie eine hochschnellende Augenbraue bei jemandem, den du niemals zum Narren halten könntest. Ich ging zum Kühlschrank, machte mir ein Putenwurstsandwich – die vier legten Wert auf guten Senf –, eins mit Marmelade und eine Thermoskanne Kaffee und nahm alles mit auf einen langen Spaziergang. Irgendwann in nächster Zeit würde ich mich im Dunkeln durch Glenskehy bewegen, möglicherweise beobachtet von einem Mörder, der die Gegend kannte wie seine Westentasche. Ich fand es ratsam, mir einen Überblick zu verschaffen.
Die Gegend war der reinste Irrgarten, Dutzende von schmalen Wegen, die sich zwischen Hecken und Wiesen und Wald hindurchwanden, scheinbar nirgends anfingen und nirgends endeten, aber wie sich herausstellte, fand ich mich besser zurecht, als ich gedacht hatte. Ich verirrte mich nur zweimal. Ich fing an, Frank auf einer ganz neuen Ebene schätzen zu lernen. Als ich Hunger bekam, setzte ich mich auf eine Mauer, trank Kaffee und aß die Sandwichs, blickte dabei über die Berghänge und hob im Geist den Mittelfinger in Richtung DHG und Maher mit seinem Mundgeruchsproblem. Es war ein sonniger, frischer Tag, Schleierwolken hoch oben an einem kühlen, blauen Himmel, aber ich war auf dem ganzen Weg keiner Menschenseele begegnet. Irgendwo weit weg bellte ein Hund, und jemand pfiff nach ihm, aber das war’s auch schon. Ich entwickelte die Theorie, dass Glenskehy durch einen Millennium-Todesstrahl ausgelöscht worden war und keiner etwas gemerkt hatte.
Auf dem Rückweg erkundete ich eine Weile das zu Whitethorn House gehörende Grundstück. Die Marchs mochten ja ihren Besitz größtenteils verloren haben, aber auch der Rest war noch immer ganz schön beeindruckend. Steinmauern höher als mein Kopf, gesäumt von Bäumen – überwiegend Weißdorn, nach dem das Haus benannt worden war, aber ich sah auch Eichen, Eschen, einen Apfelbaum, dessen Blüten sich gerade öffneten. Ein halbverfallener Stall, diskret außer Riechweite des Hauses, in dem Daniel und Justin ihre Autos unterstellten. Er musste sechs Pferden Platz geboten haben, damals vor langer Zeit. Jetzt enthielt er haufenweise verstaubtes Werkzeug und Planen, aber nichts sah so aus, als wäre es in letzter Zeit angefasst worden, daher ersparte ich mir eine genauere Inspektion.
Auf der Rückseite des Hauses erstreckte sich die weite Grasfläche, die gut hundert Meter lang war, begrenzt von dichtem Baumbestand und Steinmauern und Efeu. Am Ende war ein rostiges Eisentor – das Tor, durch das Lexie in jener Nacht gegangen war, als sie sich zur letzten Grenze ihres Lebens aufmachte – und versteckt in einer Ecke ein breites, halbangelegtes Beet mit kleinen Sträuchern. Ich erkannte Rosmarin und Lorbeer: der Kräutergarten, den Abby am Vorabend erwähnt hatte. Es kam mir bereits so vor, als
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