Totengrund
den Lärm von Bulldozern und Traktoren. Offenbar haben sie vor, die Siedlung noch zu erweitern. Das wird ihr nächstes Plain of Angels.«
»Sie haben also nie mit Julians Mutter gesprochen?«
»Nein. Und sie hat auch nie versucht, die Behörden wegen Julians Fürsorgezahlungen zu kontaktieren.« Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Was ist denn das für eine Mutter! Wird vor die Wahl gestellt, sich entweder für ihre Sekte oder für ihr eigenes Kind zu entscheiden, und sie wirft das Kind raus. Ich begreif’s nicht – Sie vielleicht?«
Jane dachte an ihre eigene Tochter, dachte daran, was sie alles opfern würde, um Regina zu schützen. Ich würde mein Leben für sie geben, ohne eine Sekunde nachzudenken. »Nein, ich begreife es auch nicht.«
»Stellen Sie sich vor, wie das für den armen Julian gewesen sein muss. Zu wissen, dass seine Mutter ihn für entbehrlich hält. Zu wissen, dass sie einfach weggeschaut hat, als die Männer ihn aus dem Haus zerrten.«
»Mein Gott – ist das wirklich so gewesen?«
»So hat Julian es geschildert. Er hat geweint und geschrien. Seine Schwester hat geschrien. Und seine Mutter hat alles geschehen lassen, ohne auch nur ein Mal aufzumucken.«
»Diese Frau ist ja wohl das Allerletzte!«
»Aber vergessen Sie nicht, dass auch sie ein Opfer ist.«
»Das ist keine Entschuldigung. Eine Mutter kämpft für ihre Kinder.«
»In der Zusammenkunft tun die Mütter das nie. In Plain of Angels haben Dutzende von Müttern ihre Söhne bereitwillig hergegeben, haben zugelassen, dass sie aus ihren Häusern gezerrt und in der nächsten Stadt auf die Straße gesetzt wurden. Die Jungen sind davon so traumatisiert, so nachhaltig geschädigt, dass viele von ihnen zu Drogen greifen. Oder sie werden von Pädophilen ausgenutzt. Sie sind verzweifelt auf der Suche nach Liebe, und es ist ihnen gleich, von wem sie sie bekommen.«
»Wie ist Julian damit klargekommen?«
»Er wollte nur zu seiner Familie zurück. Er ist wie ein Hund, der immer wieder zu seinem Herrn zurückkehrt, obwohl er dort geschlagen wird. Vergangenen Juli hat Julian ein Auto gestohlen, und es ist ihm tatsächlich gelungen, ins Tal zurückzukehren, um seine Schwester zu sehen. Drei Wochen lang konnte er sich in der Nähe der Siedlung versteckt halten, ehe die Zusammenkunft ihn schnappte und wieder in Pinedale aussetzte.«
»Dann wird er diesmal vielleicht auch versuchen, dorthin zurückzugehen.« Sie sah Cathy an. »Wie weit sind wir vom Doyle Mountain weg? Wo Martineau erschossen wurde.«
»In direkter Linie ist es nicht weit – gleich hinter dieser Hügelkette. Aber mit dem Auto ist es wesentlich weiter.«
»Zu Fuß könnte er es aber schaffen?«
»Wenn er wirklich entschlossen wäre.«
»Er hat gerade einen Deputy erschossen. Er hat Angst und ist auf der Flucht. Da wird er vielleicht versuchen, in Kingdom Come Unterschlupf zu finden.«
Cathy dachte eine Weile darüber nach. »Wenn er jetzt gerade dort ist …«
»Er ist bewaffnet.«
»Mir würde er nichts tun. Er kennt mich.«
»Ich sage ja nur, dass wir vorsichtig sein müssen. Wir können nicht wissen, was er als Nächstes tun wird.« Und er hat Maura in seiner Gewalt.
Die Straße war in der letzten Stunde stetig angestiegen, und sie hatten keine anderen Fahrzeuge gesehen, keine Häuser, keinerlei Hinweise darauf, dass in diesen Bergen irgendjemand lebte. Erst als Cathy den Wagen anhielt, entdeckte Jane das Schild, dessen Pfosten halb im tiefen Schnee versunken war.
PRIVATWEGNUR FÜR ANWOHNER
ACHTUNG, PATROUILLEN
»Da fühlt man sich doch gleich willkommen, wie?«, meinte Cathy.
»Und man stellt sich die Frage, warum sie sich so vor Besuchern fürchten.«
»Interessant – die Kette ist unten, und diese Straße ist auch geräumt.«
Sie fuhren die Privatstraße hinunter. Cathys Geländewa gen rollte langsam über die Fahrbahn, die mit einer mehrere Zentimeter dicken Schicht Neuschnee bedeckt war. Die Kiefern standen hier nahe an der Straße und hüllten sie in klaustrophobisches Dunkel. Durch den dichten grünen Vorhang konnte Jane fast nichts erkennen. Sie starrte vor sich hin, alle Muskeln angespannt. Was würde sie dort unten erwarten? Ein feindseliger Empfang durch die Zusammenkunft? Ein verängstigter Junge, der sie unter Beschuss nahm? Plötzlich teilten sich die Bäume, und sie blinzelte, als das kalte, grelle Licht des klaren Himmels sie blendete.
Cathy fuhr auf einen Aussichtsplatz und hielt an. Beide Frauen starrten entsetzt auf die Überreste der
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