Totengrund
Wind dicht zusammendrängten. Ihre langen, zottigen Felle waren mit Schnee bestäubt. Wilde Tiere, die niemandem gehörten – das war etwas ganz Neues für ein Kind der Großstadt, wo alle Hunde angeleint und angemeldet, alle Katzen geimpft und tätowiert waren. Diese Haustiere wurden von ihren Besitzern gefüttert und gepflegt, sie waren nicht hilflos den rauen Elementen ausgesetzt. Aber das sind die Konsequenzen der Freiheit, dachte Jane, während sie die Bisons betrachtete – Konsequenzen, die auch Julian Perkins akzeptiert hatte, als er von seiner Pflegefamilie davongelaufen war, mit nichts als einem Rucksack voll Proviant. Wie konnte ein sechzehnjähriger Junge in dieser menschenfeindlichen Umgebung überleben?
Und erst Maura?
Als hätte sie Janes Gedanken gelesen, sagte Cathy: »Wenn irgendjemand sie hier draußen am Leben halten kann, dann Julian. Er ist bei seinem Großvater aufgewachsen, und der kannte alle Tricks und Kniffe des Überlebens in der Natur. Absolem Perkins ist hier in der Gegend eine Legende. Hat sich mit eigenen Händen seine Hütte gebaut, oben in den Bridger-Teton-Bergen.«
»Wo ist das?«
»Das ist die Bergkette dort drüben.« Cathy zeigte in die Richtung.
Durch die Wolke aus Schneestaub, die ihre Reifen aufwirbelten, erblickte Jane hohe, zerklüftete Gipfel. » Da ist Julian aufgewachsen?«
»Heute ist es ein Nationalforst. Aber wenn Sie da oben wandern gehen, kommen Sie an einigen alten Siedlerhütten wie der vom alten Absolem vorbei. Von den meisten stehen nur noch die Grundmauern, aber sie erinnern daran, wie schwer es damals war, einfach nur zu überleben. Ich kann mir nicht vorstellen, auch nur einen Tag lang ohne eine richtige Toilette und eine heiße Dusche auszukommen.«
»Mir wäre schon ein Tag ohne Kabelanschluss zu viel.«
Sie hatten jetzt die Ausläufer des Gebirges erreicht; die Straße stieg an, der Wald wurde dichter, und sie sahen kaum noch Häuser. Dann kamen sie an Grubb’s General Store vorbei, und Jane erblickte das ominöse Schild: Letzte Tankgelegenheit . Unwillkürlich warf sie einen besorgten Blick auf die Tankanzeige von Cathys Wagen und stellte erleichtert fest, dass sie auf drei Viertel stand.
Sie waren schon fast eine Meile weitergefahren, als ihr plötzlich einfiel, dass sie den Namen schon einmal gehört hatte: Grubb’s General Store. Sie erinnerte sich, wie Queenan ihr von den zahlreichen Anrufern aus dem ganzen Bundesstaat erzählt hatte, die alle Maura gesehen haben wollten – im Dinosauriermuseum in Thermopolis, im Irma-Hotel in Cody, und in Grubb’s General Store in Sublette County.
Jane holte ihr Handy hervor, um Queenan anzurufen – null Balken, kein Empfang. Sie steckte das Telefon wieder in ihre Handtasche.
»Hm, das ist ja interessant«, sagte Cathy, als sie von der Hauptstraße auf eine wesentlich schmalere Nebenstraße abbogen.
»Was?«
»Die Straße ist geräumt.«
»Ist das der Weg nach Kingdom Come?«
»Ja. Wenn Bobby die Wahrheit gesagt hat und niemand mehr im Tal wohnt, wieso macht sich dann jemand die Mühe, die Straße zu räumen?«
»Sind Sie früher schon mal hier oben gewesen?«
»Ein Mal, das war letzten Sommer«, antwortete Cathy, während sie den Wagen um eine Haarnadelkurve steuerte und Jane instinktiv nach der Armstütze griff. »Da war ich gerade zu Julians Betreuerin bestellt worden. Die Polizei hatte ihn in Pinedale dabei erwischt, wie er in der Küche eines Hauses, in das er eingebrochen war, Lebensmittel zusammensuchte.«
»Das war, nachdem er von der Zusammenkunft rausgeworfen worden war?«
Cathy nickte. »Noch einer von ihren Lost Boys. Ich bin damals hier raufgefahren, weil ich mit der Mutter reden wollte. Und ich habe mir auch Sorgen um seine Schwester Carrie gemacht. Julian hatte mir erzählt, sie sei erst vierzehn, und das ist genau das Alter, in dem die Männer anfangen …« Cathy brach ab und holte tief Luft. »Jedenfalls bin ich damals gar nicht bis Kingdom Come gekommen.«
»Was ist passiert?«
»Ich war gerade in ihre Privatstraße eingebogen und fuhr hinunter ins Tal, als mir von unten ein Pick-up entgegenkam und sich mir in den Weg stellte. Zwei Männer mit Walkie-Talkies fragten mich nach dem Zweck meines Besuchs. Als sie erfuhren, dass ich Sozialarbeiterin bin, herrschten sie mich an, ich solle umkehren und nie wiederkommen. Ich konnte nur kurz von der Straße aus einen Blick auf die Siedlung werfen. Sie hatten zehn Häuser errichtet, und zwei weitere waren noch im Bau – ich hörte
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