Totengrund
oder?«
Cathy sah sie an. »Vielleicht doch. Ein klein wenig jedenfalls. Ich arbeite mit den Opfern. Ich weiß, was Jahre des Missbrauchs mit einem Kind anrichten können. Oder mit einer Frau.«
»Hört sich allmählich an, als ob Sie das Ganze sehr persönlich nehmen.«
»Wenn man zu viel davon sieht, dann nimmt man es irgendwann persönlich. Sosehr man auch versucht, es auf Distanz zu halten.«
»Bobby war also ein mieses Schwein, das seine Frau verprügelt hat. Das erklärt aber noch nicht, wieso er seine Bordkamera ausgeschaltet hat. Was hat er da oben auf dem Doyle Mountain zu verbergen versucht?«
»Darauf kann ich Ihnen auch keine Antwort geben.«
»Kannte er Julian Perkins?«
»Oh, gewiss. So ziemlich jeder Deputy im Bezirk hat den Jungen schon mal wegen des einen oder anderen Vergehens festgenommen.«
»Die beiden haben also eine gemeinsame Vorgeschichte.«
Cathy dachte eine Weile darüber nach, während sie ihren Geländewagen eine Straße hinauflenkte, an der nur noch vereinzelte Häuser standen. »Julian hat die Polizei nie gemocht, aber darin unterscheidet er sich kaum von anderen Teenagern. Die Bullen sind eben der Feind. Aber ich glaube nicht, dass das die Erklärung ist. Und vergessen wir nicht …« Sie streifte Jane mit einem Blick. »Bobby hat die Bordkamera ausgeschaltet, bevor er in Doyle Mountain ankam. Bevor er überhaupt wusste, dass der Junge dort war. Was auch immer sein Motiv gewesen sein mag, es hatte etwas mit Ihrer Freundin Maura Isles zu tun.«
Deren Handlungen nach wie vor das größte Rätsel von allen waren.
»Da wären wir«, sagte Cathy und hielt am Straßenrand an. »Sie wollten mehr über Bobby wissen. Nun, hier hat er gewohnt.«
Jane blickte zu dem bescheidenen Haus auf der anderen Straßenseite auf. Das Räumfahrzeug hatte hohe Schneewälle zu beiden Seiten der Straße aufgeworfen, und das Haus schien sich dahinter zu verstecken – seine Fenster lugten über den Schnee hinweg, als wollten sie die Passanten heimlich beobachten. Es war das einzige Haus weit und breit – keine Nachbarn in der Nähe, die Jane hätte befragen können.
»Er hat allein gelebt?«, fragte sie.
»Soviel ich weiß, ja. Sieht nicht so aus, als ob jemand zu Hause ist.«
Jane zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und stieg aus. Sie hörte, wie die dürren Äste im Wind aneinanderrieben, spürte den kalten Luftzug an ihren Wangen. War es das, was ihr plötzlich einen eisigen Schauer über den Rücken jagte? Oder war es dieses Haus, das Haus eines toten Mannes, mit seinen dunklen Fenstern, die über den Wall aus Schnee spähten? Cathy ging bereits auf die Veranda zu. Jane hörte das Knirschen ihrer Stiefelsohlen auf dem festgetretenen Schnee, doch sie blieb beim Wagen stehen. Sie hatten keinen Durchsuchungsbeschluss. Sie hatten keinen Grund, sich hier umzusehen, bis auf die Tatsache, dass Deputy Martineau ihr ein Rätsel war und dass zu jeder professionellen Mordermittlung eine Analyse der Lebensumstände des Opfers gehörte. Warum war ausgerechnet dieser Mann angegriffen worden? Welche seiner Handlungen hatten zu seinem Tod in dieser windgepeitschten Hauseinfahrt oben auf dem Doyle Mountain geführt? Bislang hatte sich das Augenmerk allein auf den angeblichen Schützen Julian Perkins gerichtet. Es war an der Zeit, sich auch mit Bobby Martineau zu befassen.
Sie folgte Cathy zum Haus. Der Schnee in der Einfahrt war mit grobkörnigem Sand bestreut, der ihren Sohlen Halt gab. Cathy klopfte bereits an die Haustür.
Wie erwartet öffnete niemand.
Jane fielen die morschen Fensterbretter auf, die abblätternde Farbe. An einem Ende der Veranda war Brennholz zu einem unordentlichen Haufen geschichtet, und das Geländer, an dem der Stapel lehnte, sah aus, als könnte es jeden Moment umknicken. Sie spähte durch das Fenster und erblickte ein spärlich möbliertes Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch standen ein Pizzakarton und zwei Bierdosen. Sie konnte nichts entdecken, was sie überrascht hätte; nichts, was sie im Haus eines alleinstehenden Mannes, der vom Gehalt eines Deputys lebte, nicht erwartet hätte.
»Mann, das ist ja eine richtige Bruchbude«, meinte Cathy und beäugte die freistehende Garage, die sich unter dem Gewicht des Schnees auf dem Dach zu biegen schien.
»Wissen Sie etwas über irgendwelche Freunde? Irgendjemand, der ihn gut gekannt haben könnte?«
»Seine Kollegen wahrscheinlich, aber die werden Sie kaum dazu bringen, etwas Negatives über ihn zu sagen. Wie ich bereits sagte, ein
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