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Totengrund

Totengrund

Titel: Totengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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gerissen und abgenagt von Aasfressern, wäre da nicht ein kleines Detail gewesen. Um einen der Knochen war etwas geschlungen, das nicht zu einem Tier gehörte.
    Jane ging in die Hocke und starrte die rosa und lila Perlen an, die auf einem Ring aus Plastik aufgereiht waren. Ein Kinderarmband.
    Ihr Herz schlug wie wild, als sie sich wieder aufrichtete. Sie blickte über das weite weiße Feld hinweg zum Waldrand, und sie sah die Krater im Schnee, wo die Kojoten nach der begehrten Beute gegraben hatten, nach frischem Fleisch, an dem sie sich bereits gütlich getan hatten.
    »Sie sind noch hier«, sagte Cathy leise. »Die Familien, die Kinder. Die Leute von Kingdom Come sind nie abgereist.« Sie starrte auf die Erde, als hätte sie zu ihren Füßen neue Gräuel erblickt. »Sie sind alle noch hier .«

30
    Bei Einbruch der Dunkelheit hatte das Bergungsteam des Coroners gerade die fünfzehnte Leiche aus der gefrorenen Erde geholt. Zusammen mit den anderen war sie in einem Massengrab verscharrt worden, die Gliedmaßen in einer Art makabrer Gruppenumarmung ineinander verschlungen. Die Grube war nicht tief, die Erdschicht darüber so dünn, dass die Aasfresser das begehrte Fleisch sogar durch einen halben Meter Schnee hindurch gewittert hatten. Wie bei den vierzehn Leichen zuvor waren auch bei dieser die Glieder steif gefroren, als man sie aus der Erde holte, die Wimpern mit einer Eiskruste überzogen. Es war noch ein Säugling, vielleicht sechs Monate alt, und er trug einen langärmeligen Baumwoll-Strampelanzug mit einem Muster aus kleinen Flugzeugen – als hätte er eben noch in seinem Bettchen gelegen. Der Körper wies keine äußerlichen Spuren von Gewalt auf, ebenso wenig wie alle anderen. Bis auf postmortale Schäden durch Tierfraß wirkten die toten Körper auf seltsame, verstörende Weise intakt.
    Und dieses Baby war vollkommener als alle anderen – die Augen geschlossen, als ob es schliefe, die Haut glatt und milchig weiß wie Porzellan. Bloß eine Puppe , hatte Jane im ersten Moment gedacht, als sie den winzigen Leichnam in der Grube erblickt hatte. Das war es, was sie glauben wollte. Aber die Wahrheit wurde nur zu bald offensichtlich, nachdem die Mitarbeiter des Coroners in ihren Chemikalien-Schutzanzügen, die sie über der dicken Winterkleidung trugen, den Körper behutsam aus seinem Grab befreit hatten.
    Jane hatte zugesehen, wie eine Leiche nach der anderen geborgen worden war, doch es war der Anblick des Säuglings, der sie am meisten erschütterte, weil sie an ihre eigene Tochter denken musste. Sie versuchte, das Bild zu verdrängen, doch es hatte sich bereits in ihrem Kopf festgesetzt: Reginas lebloses Gesicht, die Haut mit hauchdünnem Reif überzogen.
    Abrupt wandte sie sich von der Grube ab und ging zurück zu den parkenden Fahrzeugen. Cathy saß immer noch zusammengekauert in ihrem Geländewagen. Jane stieg neben ihr ein und schlug die Tür zu. Cathy zündete sich eine weitere Zigarette an und sog zitternd daran, dann saßen die beiden Frauen eine Weile schweigend da. Durch die Frontscheibe konnten sie beobachten, wie ein Mitglied des Bergungsteams das armselige kleine Bündel in den Leichenwagen legte und die Tür zuschlug. Es war inzwischen zu dunkel; sie mussten die Suche abbrechen. Morgen würden sie weitergraben und mit Sicherheit noch mehr Leichen finden. Am Boden der Grube hatten die Helfer bereits den Arm eines weiteren Erwachsenen ausmachen können, der starr in die Luft ragte.
    »Keine Stichwunden. Keine Einschusslöcher«, sagte Jane, als sie dem Leichenwagen nachsahen. »Sie sehen aus, als wären sie einfach eingeschlafen. Und im Schlaf gestorben.«
    »Jonestown«, murmelte Cathy. »Sie erinnern sich doch, oder? Der Sektenführer Jim Jones. Er hatte fast tausend seiner Anhänger von Kalifornien nach Guyana geführt und dort seine eigene Kolonie gegründet. Als die US-Behörden vor Ort ermitteln wollten, befahl er seinen Anhängern, Selbstmord zu begehen. Über neunhundert Menschen starben.«
    »Sie glauben, das hier war auch ein Massenselbstmord?«
    »Was soll es sonst gewesen sein?« Cathy starrte durch die Scheibe auf das Grab. »In Jonestown mussten die Kinder als Erste trinken. Sie gaben ihnen Zyankali, das in süße Brause gemischt worden war. Flavor Aid. Stellen Sie sich das einmal vor. Sie füllen ein Fläschchen mit Gift. Nehmen Ihr eigenes Baby in den Arm. Stecken ihm den Sauger in den Mund. Stellen Sie sich vor, Sie sehen dem Kind beim Trinken zu und wissen, es ist das letzte Mal,

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