Totengrund
irgendwie hat sie den Mut aufgebracht, zu fliehen. Und sie hat der Zusammenkunft den Rücken gekehrt.«
»Und zu der Zeit hat sie auch ihren Namen geändert?«, fragte Maura.
Jane nickte, hielt den Blick aber auf die Straße gerichtet. »Sie hieß jetzt Catherine Sheldon Weiss. Und sie widmete ihr Leben dem einen Ziel, Jeremiah zu Fall zu bringen. Das Problem war, dass niemand ihr zuhörte. Sie war nur eine einsame Ruferin in der Wüste.«
Maura starrte auf die Straße. Inzwischen kannte sie die Strecke gut, denn sie war sie jeden Tag gefahren, um Rat im Krankenhaus zu besuchen. Dies sollte ihr letzter Besuch sein. Morgen würde sie nach Boston zurückfliegen, und sie dachte mit Schrecken an diesen Abschied. Denn sie wusste immer noch nicht, was für eine Zukunft sie ihm bieten, welche Versprechen sie realistischerweise halten könnte. Die kleine Katie Sheldon war durch die Zusammenkunft seelisch schwer geschädigt worden … Hatte Rat auch so tiefe Wunden davongetragen? Wollte Maura wirklich ein so traumatisiertes Wesen in ihr Haus aufnehmen?
»Das beantwortet immerhin die eine oder andere Frage«, sagte Jane.
Maura sah sie an. »Welche Fragen?«
»Zum Beispiel nach dem Doppelmord auf der Circle-B-Touristenranch. Das Paar, das in seiner Hütte getötet wurde. Es lag kein Einbruch vor. Der Täter ist einfach hereinspaziert und hat dem Mann den Schädel eingeschlagen, hat sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt.«
»Ein Verbrechen aus rasender Wut.«
Jane nickte. »Die Mordwaffe wurde in Cathys Garage gefunden. Ein Hammer.«
»Es gibt also keinen Zweifel, dass sie es getan hat.«
»Es erklärt auch noch etwas anderes, was mich an diesem Tatort verwirrt hat«, sagte Jane. »Nämlich das Baby, das in seinem Kinderbett lag. Nicht nur, dass das Mädchen unverletzt war, es lagen auch vier leere Flaschen im Bett. Wer immer die beiden Eltern ermordet hat, wollte, dass das Baby überlebt. Der Täter hat sogar das Schild › Bitte nicht stören ‹ von der Tür abgehängt, um sicherzustellen, dass jemand vom Personal hineingeht und die Leichen findet.« Sie warf Maura einen Seitenblick zu. »Klingt nach jemandem, der etwas für Kinder übrig hat.«
»Wie zum Beispiel eine Mitarbeiterin des Jugendamts.«
»Cathy hat die Zusammenkunft stets im Auge behalten. So wusste sie immer Bescheid, wenn eines der Sektenmitglieder in der Stadt auftauchte. Vielleicht hat sie dieses Paar aus blinder Wut getötet. Oder vielleicht versuchte sie nur, dieses eine Mädchen zu retten.« Jane nickte grimmig. »Letzten Endes hat sie eine Menge Mädchen gerettet. Die Kleinen sind jetzt alle in Schutzgewahrsam. Und die Frauen verlassen nach und nach Plain of Angels. Genau wie Cathy es vorausgesagt hat: Ohne Jeremiah zerfällt die Zusammenkunft.«
»Aber sie musste ihn töten, damit das passiert.«
»Ich will nicht den Stab über sie brechen. Denk nur daran, wie viele Leben er zerstört hat. Auch das des Jungen.«
»Rat hat jetzt niemanden mehr«, sagte Maura leise.
Jane sah sie an. »Dir ist doch bewusst, dass er einen Haufen Probleme mit sich herumschleppt.«
»Ich weiß.«
»Mehrere Jugendstrafen. Von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht. Und jetzt sind seine Mutter und seine Schwester beide tot.«
»Warum sprichst du das Thema an, Jane?«
»Weil ich weiß, dass du darüber nachdenkst, ihn zu adoptieren.«
»Ich will das Richtige tun.«
»Du lebst allein. Du hast einen anstrengenden Job.«
»Er hat mir das Leben gerettet. Er hat etwas Besseres verdient als das, was ihm jetzt bevorsteht.«
»Und du bist wirklich gewillt, ihm die Mutter zu ersetzen? Dir seine ganzen Probleme aufzuhalsen?«
»Ich weiß es nicht!« Maura seufzte und blickte hinaus auf die schneebedeckten Dächer. »Ich will einfach nur etwas dazu beitragen, dass sein Leben sich zum Besseren wendet.«
»Was ist mit Daniel? Wie passt der Junge in eure Beziehung?«
Maura erwiderte nichts, weil sie selbst die Antwort nicht kannte. Ja, was ist mit Daniel? Was wird jetzt aus uns?
Als sie auf den Krankenhausparkplatz einbogen, klingelte Janes Handy. Sie warf einen Blick auf die Nummer und antwortete: »Hallo, Schatz. Was gibt’s?«
Schatz . Der Kosename ging Jane so leicht über die Lippen, so selbstverständlich. So redeten zwei Menschen miteinander, die ihr Bett und ihr Leben miteinander teilten, und sie redeten auch so, wenn jemand mithörte. Sie mussten nicht flüstern, mussten sich nicht in eine dunkle Ecke verdrücken. So hörte sich Liebe
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