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Totengrund

Totengrund

Titel: Totengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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ihrem Küchentisch und hatte ein Glas Rotwein vor sich. Wenn man es mit dem seriösen Porträt von der Institutswebsite verglich, musste man glauben, eine völlig andere Frau vor sich zu haben, die Wangen gerötet vom Alkohol und vom Lachen. Das Foto war an den Rändern schon ganz abgegriffen; wahrscheinlich trug er es immer bei sich und holte es in einsamen Momenten hervor, um es zu betrachten. Für Daniel Brophy musste es viele solcher Momente geben, in denen er hin- und hergerissen war zwischen Pflicht und Verlangen, zwischen Gott und Maura.
    »Kommt sie Ihnen bekannt vor?«, fragte Queenan Michelle.
    Die junge Frau runzelte die Stirn. »Ist das dieselbe Frau? Sie sieht so anders aus auf diesem Bild.«
    Glücklicher. Verliebt.
    Michelle sah auf. »Also, ich glaube, ich erinnere mich an sie. War sie mit ihrem Mann hier?«
    »Sie ist nicht verheiratet«, sagte Jane.
    »Oh. Na ja, vielleicht verwechsle ich sie ja mit jemandem.«
    »Erzählen Sie uns von der Frau, an die Sie sich erinnern.«
    »Sie war mit diesem Mann zusammen. Richtig schnuckliger Kerl, blonde Haare.«
    Jane vermied es, Brophy anzuschauen; sie wollte seine Reaktion nicht sehen. »Was ist Ihnen von den beiden noch in Erinnerung?«
    »Sie wollten zusammen essen gehen. Ich weiß noch, dass sie an die Rezeption kamen und nach dem Weg zum Restaurant fragten. Ich habe einfach angenommen, sie wären verheiratet.«
    »Wieso?«
    »Na ja, er hat gelacht und so was Ähnliches gesagt wie: ›Siehst du? Ich habe doch gelernt, nach dem Weg zu fragen.‹ Ich meine, das ist doch etwas, was ein Mann zu seiner Frau sagen würde, oder?«
    »Wann haben Sie dieses Paar gesehen?«
    »Das müsste am Donnerstagabend gewesen sein. Freitag hatte ich nämlich frei.«
    »Und am Samstag, dem Tag, an dem sie abgereist ist? Hatten Sie da morgens Dienst?«
    »Ja, aber da waren viele von uns im Einsatz. Das war nach dem Ende der Tagung, als die ganzen Teilnehmer abgereist sind. Ich kann mich nicht erinnern, sie da gesehen zu haben.«
    »Dann muss jemand anders sie beim Auschecken an der Rezeption bedient haben.«
    »Nicht unbedingt«, warf der Direktor ein. Er hielt einen Computerausdruck hoch. »Sie sagten, dass Sie die Zimmerrechnung der Dame brauchen, also habe ich sie Ihnen kopiert. Wie es aussieht, hat sie die Check-out-Funktion am Fernseher in ihrem Zimmer benutzt. So konnte sie einfach abreisen, ohne sich noch einmal an der Rezeption zu melden.«
    Queenan nahm den Ausdruck an, blätterte ihn durch und las die einzelnen Rechnungsposten vor. »Übernachtungen. Restaurant. Internet. Restaurant. Ich kann hier nichts Ungewöhnliches finden.«
    »Wenn die Check-out-Funktion auf dem Zimmer benutzt wurde«, sagte Jane, »woher wissen wir dann, dass sie das selbst war?«
    Queenan gab sich nicht die Mühe, ein verächtliches Schnauben zu unterdrücken. »Wollen Sie etwa andeuten, dass jemand in ihr Zimmer eingebrochen ist? Ein Einbrecher, der ihre Sachen gepackt und dann für sie ausgecheckt hat?«
    »Ich weise nur darauf hin, dass wir keine Beweise dafür haben, dass sie am Samstagmorgen tatsächlich hier war – dem Tag, an dem sie angeblich abgereist ist.«
    »Welche Beweise brauchen Sie denn?«
    Jane wandte sich an den Direktor. »Sie haben doch eine Überwachungskamera über der Rezeption. Wie lange bewahren Sie die Aufnahmen auf?«
    »Das Video von letzter Woche müssten wir noch haben. Aber wir reden hier von vielen Stunden Filmmaterial. Hunderte von Menschen, die durch die Lobby gehen. Wenn Sie das alles durchsehen wollen, sind Sie die ganze Woche hier.«
    »Um wie viel Uhr hat sie laut der Rechnung ausgecheckt?«
    Queenan sah auf dem Ausdruck nach. »Das war sechs Minuten vor acht Uhr morgens.«
    »Dann fangen wir doch da an. Wenn sie dieses Hotel auf ihren eigenen zwei Beinen verlassen hat, müssten wir sie auf dem Film entdecken können.«
    Das Durchsehen von Überwachungsvideos war so ziemlich die geisttötendste Beschäftigung, die man sich vorstellen konnte. Schon nach einer halben Stunde taten Jane Nacken und Schultern weh, so angestrengt reckte sie den Hals, um jede einzelne Person, die durchs Bild ging, zu erkennen. Es war auch nicht gerade hilfreich, dass Queenan neben ihr immer wieder seufzte und ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her rutschte, womit er allen Anwesenden deutlich zu verstehen gab, dass er das Ganze für reine Zeitverschwendung hielt. Und das ist es vielleicht tatsächlich, dachte Jane, während sie die Gestalten betrachtete, die über den Monitor

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