Totengrund
Betreten dieses Raums mit seinen blitzblanken Armaturen aus kaltem Edelstahl plötzlich in die Uniform des Leichenbeschauers geschlüpft. »Ich habe diese Bilder an unseren Rechtsmediziner in Colorado gemailt. Er kam zu dem Schluss, dass es sich um eine Frau im Alter zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahren handelt. Geschätzte Körpergröße zwischen ein Meter fünfundsechzig und ein Meter achtundsechzig. Und nach dem Zustand des Iliosakralgelenks zu urteilen, war sie eine Nullipara. Sie hat nie Kinder geboren.« Er hielt inne und sah Jane an. »Trifft das alles auf Ihre Bekannte zu?«
Benommen nickte Jane. »Ja«, flüsterte sie.
»Und sie hatte ein sehr gepflegtes Gebiss. Hier, dieser untere rechte Backenzahn ist überkront. Mehrere Füllungen.« Wieder sah er Jane an, als hätte sie sämtliche Antworten parat.
Jane starrte den Kiefer an, dessen Konturen am Leuchtkasten schimmerten. Woher soll ich das wissen? Sie hatte Maura nie in den Mund geschaut, hatte nie ihre Kronen und Füllungen gezählt. Maura war ihre Kollegin und ihre Freundin, nicht eine Ansammlung von Zähnen und Knochen.
»Es tut mir leid«, sagte Draper. »Das waren vermutlich zu viele Informationen auf einmal für Sie. Ich wollte nur Ihre Zweifel an der Identifizierung ausräumen.«
»Dann wird es also keine Obduktion geben«, sagte Jane leise.
Draper schüttelte den Kopf. »Es besteht kein Anlass dazu. Der Rechtsmediziner in Colorado hat keine Zweifel an der Identifizierung. Wir haben ihren Gepäckanhänger und die Röntgenaufnahmen einer Frau ihres Alters und ihrer Größe. Und die Leiche weist die typischen Verletzungen auf, wie sie ein nicht angeschnallter Fahrzeuginsasse bei einem Aufprall mit hoher Geschwindigkeit erleidet.«
Jane brauchte ein paar Sekunden, um zu registrieren, was er gerade gesagt hatte. Sie blinzelte die Tränen weg, und plötzlich sah sie die Röntgenaufnahme am Leuchtkasten wieder scharf. »Ein nicht angeschnallter Insasse?«, wiederholte sie.
»Ja.«
»Sie meinen, sie hatte keinen Sicherheitsgurt angelegt?«
»Das ist richtig. Keiner der Verstorbenen war angeschnallt.«
»Das kann nicht sein. Maura würde nie vergessen, sich anzuschnallen. So gut kenne ich sie.«
»Ich fürchte, dieses eine Mal hat sie es versäumt. Ohnehin hätte der Gurt sie wahrscheinlich auch nicht gerettet. Nicht bei einem so schweren Unfall.«
»Darum geht es nicht. Es geht darum, dass hier irgendetwas nicht stimmt«, sagte Jane. »Das passt absolut nicht zu ihr.«
Draper seufzte und schaltete den Leuchtkasten aus. »Detective, ich weiß, wie schwer es für Sie sein muss, den Tod einer guten Freundin zu akzeptieren. Ob sie nun angeschnallt war oder nicht, es ändert nichts an der Tatsache, dass sie tot ist.«
»Aber wie ist es passiert? Warum?«
»Macht das wirklich einen Unterschied?«, fragte Draper ruhig.
»Ja.« Wieder brannten ihr Tränen in den Augen. »Für mich ergibt das keinen Sinn. Ich will es nur verstehen.«
»Jane«, sagte Gabriel, »es wird vielleicht nie einen Sinn ergeben. Wir müssen es einfach akzeptieren.« Behutsam nahm er ihren Arm. »Ich glaube, wir haben genug gesehen. Fahren wir zurück ins Hotel.«
»Noch nicht.« Sie löste sich von ihm. »Da gibt es noch etwas, das ich sehen muss.«
»Wenn Sie darauf bestehen, die Leiche zu sehen«, sagte Draper, »kann ich sie Ihnen zeigen. Aber Sie werden nichts erkennen können. Es ist nicht viel übrig außer verkohltem Fleisch und Knochen.« Er hielt inne und fuhr leise fort: »Glauben Sie mir: Es ist besser für Sie, wenn Sie sie nicht sehen. Nehmen Sie sie einfach nur mit nach Hause.«
»Er hat recht«, sagte Gabriel. »Wir müssen die Leiche nicht sehen.«
»Nicht die Leiche.« Sie atmete durch und richtete sich zu voller Größe auf. »Ich will den Unfallort sehen. Ich will sehen, wo es passiert ist.«
21
Es schneite leicht, als Gabriel und Jane am nächsten Morgen aus ihrem Wagen stiegen und zum Straßenrand gingen. Dort blieben sie stehen und starrten schweigend in die Schlucht hinunter, wo das ausgebrannte Wrack des Suburban immer noch lag. Eine Spur aus zertrampeltem Schnee markierte den verschlungenen Pfad, auf dem das Rettungsteam am Vortag hinuntergeklettert war, um die Leichen zu bergen. Es musste sie große Mühe gekostet haben, die Opfer zur Straße hinaufzutragen, mit den Bahren um die Spitzkehren zu manövrieren, während die Sohlen auf dem vereisten Fels ausrutschten.
»Ich will näher herangehen«, sagte sie und begann den Pfad
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