Totengrund
hinunterzusteigen.
»Da unten gibt es nichts zu sehen.«
»Ich bin es ihr schuldig. Ich muss sehen, wo sie gestorben ist.« Sie ging weiter, den Blick konzentriert auf den rutschigen Untergrund gerichtet. Unter der frischen Schicht Pulverschnee verbarg sich tückischer Harsch, und sie kam nur langsam voran. Bald schon schmerzten ihre Oberschenkel von dem steilen Abstieg, und schmelzende Schneeflocken, vermischt mit ihrem Schweiß, rannen ihr über die Wangen. Sie entdeckte erste Trümmerteile, die über den Abhang verstreut lagen: ein verdrehtes Metallteil, ein einzelner Tennisschuh, ein Fetzen blauer Stoff – alles schon halb begraben unter dem frischen Pulverschnee. Als sie endlich das Wrack erreichte, war es bereits mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Der Brandgeruch hing noch in der kalten, reinen Luft, und sie konnte die Narben sehen, die das Feuer hinterlassen hatte – die angesengten Büsche und die verkohlten Kiefernzweige. Sie malte sich aus, wie der Suburban über die Klippe gerast und in die Tiefe gestürzt war, die Schreie und die Panik, als die letzten Sekunden von Mauras Leben vor ihren Augen vorübergezogen waren.
Jane hielt inne und ließ stockend die angehaltene Luft entweichen, während sie zusah, wie der Neuschnee langsam die hässlichen Spuren des Todes unter sich begrub. Knirschende Schritte näherten sich ihr von hinten, und dann stand Gabriel neben ihr.
»Es ist so schwer zu begreifen«, sagte Jane. »Du wachst morgens auf und denkst, es wird ein ganz normaler Tag. Du steigst mit ein paar Freunden ins Auto. Und plötzlich ist alles vorbei. Alles, was du je gewusst und gedacht und gefühlt hast, existiert von einer Sekunde auf die andere nicht mehr.«
Er zog sie fest an sich. »Deshalb sollten wir jede Minute genießen.«
Sie wischte etwas Schnee von dem Wrack, und ein Streifen geschwärzten Metalls kam zum Vorschein. »Wir können es nie wissen, nicht wahr? Welche kleine Entscheidung letztlich unser Leben verändert. Wenn sie nicht zu dieser Tagung geflogen wäre, dann hätte sie Doug Comley nicht getroffen. Und sie wäre nicht in diesen Wagen gestiegen.« Abrupt nahm sie die Hand von der Karosserie des Suburban, als wäre sie glühend heiß. Den Blick starr auf den ausgebrannten Geländewagen gerichtet, stellte sie sich die letzten Tage von Mauras Leben vor. Sie wussten jetzt, dass es Comley gewesen war, den sie mit Maura auf dem Überwachungsvideo gesehen hatten. Sie hatten sein Foto auf der Website des Krankenhauses in San Diego gefunden, an dem er als Rechtsmediziner arbeitete. Zweiundvierzig Jahre alt, geschieden, alleinerziehender Vater. Er hatte an derselben Tagung teilgenommen wie Maura. Ein attraktiver Mann trifft eine nicht minder attraktive Frau – und schon nimmt die Natur ihren Lauf. Man geht zusammen essen, man redet, ungeahnte Möglichkeiten schwirren einem durch den Kopf. Jede Frau würde da in Versuchung geraten, selbst eine so besonnene Frau wie Maura. Was für eine Zukunft konnte ihr denn Daniel Brophy versprechen, außer einem Leben, das aus klammheimlichen Treffen, Enttäuschungen und später Reue bestand? Hätte Daniel ihr gegeben, was sie brauchte, wäre Maura auch nicht auf Abwege geraten. Sie hätte Douglas Comley nicht auf diesen fatalen Ausflug begleitet.
Sie wäre noch am Leben.
Daniel quälten gewiss dieselben Überlegungen. Sie hatten ihn im Hotel zurückgelassen, ohne ihm zu sagen, wohin sie fuhren. Es war besser, dass er nicht dabei war. Jetzt, als sie hier im sanften Schneegeriesel stand, war sie sich nicht mehr sicher, ob sie selbst hätte kommen sollen. Was für einen Sinn hatte es, dieses ausgebrannte Wrack zu sehen, sich vorzustellen, wie das Auto durch die Luft geflogen war, den Aufprall, das splitternde Glas und die lodernden Flammen? Aber jetzt habe ich es gesehen, dachte sie. Und jetzt kann ich nach Hause zurückkehren.
Sie wandte sich ab und begann zusammen mit Gabriel, den Pfad zur Straße hinaufzusteigen. Der Wind hatte aufgefrischt, pulvriger Schnee wirbelte ihr ins Gesicht, flog ihr in die Augen und kitzelte sie in der Nase. Sie musste niesen, und als sie die Augen wieder aufschlug, flatterte etwas Blaues vor ihrem Gesicht vorüber. Sie hob es auf und sah, dass es ein zerrissener Flugticketumschlag war, die Kanten vom Feuer versengt. Ein Fetzen der Bordkarte steckte noch darin, doch nur die fünf letzten Buchstaben des Namens waren noch zu erkennen.
inger.
Sie sah Gabriel an. »Wie war der Name des anderen männlichen
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